Mordkommission
Vermisstenstelle um Unterstützung. Seit dem Vortag,
genau seit 13 Uhr, wurde ein neunjähriger Junge aus einer Münchner Trabantenstadt vermisst. Der kleine Peter – so wurde er später in den
Medien genannt – war ein sehr stiller und schüchterner Junge, der aufgrund seiner Lernbehinderung in eine Förderschule ging.
Von dort war er wie jeden Tag nach dem Unterricht mit dem Schulbus nach Hause gebracht worden. Der Busfahrer erinnerte sich
später an jedes Detail der Bekleidung seines kleinen Fahrgastes, und er blickte dem Jungen sogar noch nach, als er in Richtung
der Eingangstür des Wohnblocks ging, in dem er mit seinen Eltern und drei Geschwistern lebte.
Doch zu Hause warteten seine Eltern vergeblich auf ihren Jungen. Bald schon machten sie sich Sorgen, weil sie keine Erklärung
für sein Ausbleiben fanden. Ihr Sohn hatte so gut wie keine Freunde und war aufgrund seiner Behinderung sehr auf die Familie
fixiert. Die Nachfrage in der Schule erbrachte, dass Peter wie jeden Tag mit dem Bus nach Hause gefahren war. Der Unterricht
war ohne jegliche Besonderheit verlaufen. Wo konnte Peter bloß sein? Bis in den Abend hinein suchten die Eltern mit Unterstützung
von Freunden und Nachbarn die Umgebung der Wohnung ab. Schließlich alarmierten sie in ihrer Verzweiflung die Polizei.
Der Notruf ging gegen 20 Uhr bei der Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums ein. Ein Kind wird vermisst! Der Einsatz, der daraufhin binnen Minuten anlief,
bekam sofort oberste Priorität. Werden Kinder vermisst, gibt es für die Polizei kein Zaudern und Abwarten. Sofort nach dem
Anruf der Eltern wurden die Einsatzhundertschaft und etliche Inspektionsstreifen in Marsch gesetzt. Auch ein Polizeihubschrauber
mit einer Wärmebildkamera wurde angefordert, der lange Zeit im Tiefflug über dem Stadtteil kreiste, in dem der Junge verschwunden
war. Die Beamten |87| kontrollierten aus luftiger Höhe jeden Hinterhof, jeden Park und jede sonstige Freifläche. Hundeführer ließen ihre vierbeinigen
Begleiter die Nasen in jeden Winkel stecken und durchstöberten Dickichte, Schuppen und Garagen im weiten Umkreis. Nachbarn
und Anwohner wurden befragt und die Beschreibung des Kindes im Rundfunk durchgegeben. Doch allen Bemühungen zum Trotz blieb
Peter verschwunden.
Die Ermittlungen im Umfeld der Familie des Jungen ergaben schließlich Hinweise darauf, dass Peters Vater Kontakte zu Männern
hatte, die er während eines Haftaufenthaltes kennengelernt hatte. Einige dieser ehemaligen Mithäftlinge – überwiegend Sexualstraftäter
– verkehrten seit Längerem bei der Familie von Peter. Nach und nach hatte der Junge zu ihnen Zutrauen gefasst.
Als wir nun in die Ermittlungen eingebunden wurden, bestand bereits die Befürchtung, dass der Junge sich nicht einfach verlaufen
oder einen Unfall erlitten hatte, sondern dass Peter möglicherweise einem Verbrecher in die Hände gefallen war. Da auch in
meiner Dienststelle alle verfügbaren Beamten sofort in die Ermittlungen eingebunden wurden, dauerte es nicht allzu lange,
bis die genauere Überprüfung der Freunde von Peters Eltern eine beunruhigende Erkenntnis erbrachte: Einer der engeren Freunde
der Familie war bereits einmal wegen eines Sexualmordes an einem elfjährigen Jungen zu neun Jahren Jugendstrafe verurteilt
worden. Der Täter – damals gerade 18 Jahre alt – hatte den Jungen hinter einen Schuppen gezerrt, um sich an ihm zu vergehen. Als sich der Junge wehrte, tötete
er ihn mit über siebzig Messerstichen. Nun hatte er die Strafe verbüßt und war seit Kurzem auf freiem Fuß. Dieser Mann hatte
Peters Eltern am Vortag besonders hilfsbereit und emsig bei der Suche nach dem Jungen geholfen.
Wir beratschlagten, wie wir am besten weiter vorgehen sollten. Es war allen Kollegen deutlich anzumerken, dass sie die gleichen
schlimmen Befürchtungen hegten: nämlich dass dieser einschlägig Vorbestrafte mit dem Verschwinden des Jungen etwas zu tun
hatte.
|88| Mehrere Beamte unserer Dienststelle fuhren zur Wohnadresse dieses Mannes, um ihn zu einer Vernehmung abzuholen und sich in
seinem Umfeld umzuhören und umzusehen. Auch sollten Nachbarn und Anwohner befragt werden, ob sie etwas Verdächtiges beobachtet
hatten. »Unser« Mann hatte über das Sozialamt einen Raum in einer Gemeinschaftsunterkunft im Münchner Osten zugeteilt bekommen.
Diese eigentlich als Familienunterkunft konzipierte Einrichtung bestand aus einer Reihe ordentlicher
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