Mordlast
wenn es keine Zeit gab, die von ihnen überbrückt werden musste. Die Personenschützer hatten auch Fernseher in ihren Büros, um sich die langen Wartezeiten zwischen ihren Einsätzen zu vertreiben, vor allem, wenn sie auf Abruf für einen Minister waren. Normalerweise gab es die Zeitung aber erst am Nachmittag.
Erst als Davídsson einen Blick auf die Hauptüberschrift auf der ersten Seite warf, war ihm klar, dass diese Zeitung jemand anderes auf seinen Platz gelegt hatte.
»Polizei verdächtigt wieder unschuldige Berliner Bürgerin – Neuer Fall von Willkür!«, las er in großen Lettern.
Er überflog hektisch den dreispaltigen Artikel, in dem von einem Verhör einer Evelyn S. durch das BKA und die Mordkommission berichtet wurde. Er las Wörter wie ›unmenschliche Bedingungen‹ und ›Willkür‹.
Das Telefon klingelte schon wieder, aber jetzt war er vorgewarnt. Das konnte die Presse sein, die ihn jetzt völlig unvorbereitet antreffen würde. Das konnte die Situation noch verschärfen und außerdem überließ er diese Arbeit gerne Wittkampf.
Er holte sein Handy aus der braunen Mappe, die er immer mit zur Arbeit nahm, und suchte Engbers Nummer im Telefonbuch.
Er meldete sich beim ersten Klingeln. »Hier ist die Hölle los«, sagte er zur Begrüßung. Aber er klang nicht besonders abgehetzt.
Vielleicht steht er ja am Fenster und raucht, dachte Davídsson. »Ja, hier wohl auch. Ich bin eben erst ins Büro gekommen.« Er erzählte von dem Unfall in der Nacht.
»Scheiße. Da kommt ja mal wieder alles zusammen. Eigentlich wollte ich mich heute um die Ceciliengärten kümmern. Es ist zwar kein wirklich brennender Hinweis, aber wir müssen uns auch damit beschäftigen. Diese alte Jungfer macht ja einen mächtigen Wirbel um die Sache.«
»Was machen wir jetzt?«
Der Apparat auf seinem Schreibtisch hörte für ein paar Sekunden auf, schrillende Laute von sich zu geben. Davídsson nutzte die Gelegenheit und legte den Hörer zur Seite.
»Du bekommst einen Streifenwagen von uns, damit du mobil bleibst. Ich habe gute Kontakte zu unserem Fuhrpark. Ich denke, wegen der Presse müssen sich unsere Vorgesetzten abstimmen. Vielleicht müssen wir in nächster Zeit etwas unauffälliger arbeiten.«
»Dann ist ein Polizeiauto aber genau das Falsche.«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass du mit Blaulicht und Martinshorn durch die Gegend fahren sollst.« Davídsson hörte Engbers grinsen, obwohl er es nicht sehen konnte.
Das ist es, was diese Callcenter Agents bei ihrem Job brauchen – ein unsichtbares Lächeln, das noch auf der anderen Seite wahrgenommen werden kann, dachte Davídsson. Irgendwie amüsierte ihn die Vorstellung, Engbers in einem riesigen Großraumbüro sitzen zu sehen.
»Ich kümmere mich um die Ceciliengärten. Wo kann ich den Wagen abholen?«
»Wir liefern wie ein anständiger Pizza-Service.« Er räusperte sich kurz. »Du kommst in dem Artikel ja deutlich besser weg als ich.«
»Hoffentlich sieht das mein Chef auch so«, sagte Davídsson. Er wusste, dass Wittkampf ihm den Rücken freihalten würde, auch wenn der Druck von oben jetzt größer werden würde. Vielleicht würde sich sogar das Bundesministerium des Innern einschalten.
Die Presseabteilung musste das meiste abfangen, auch wenn dort bisher am wenigsten über den Fall bekannt war. Sicher musste er jetzt innerhalb kürzester Zeit einige Informationen zusammenstellen, die dann in der Presseabteilung medienwirksam aufbereitet wurden, um sie schließlich scheibchenweise weiterzugeben. Was jedoch am Ende dabei herauskam, konnte jetzt noch keiner so genau sagen. Er wusste, dass die Pressesprecherin des BKA bei den Medien nicht sonderlich beliebt war, aber letztendlich konnte ihm das egal sein.
»Bei uns gab es heute Morgen schon eine Besprechung beim Polizeipräsidenten. Die Sache ist ihm vor allem wegen der Volksabstimmung wichtig.«
»Was hat die Volksabstimmung mit unserem Fall zu tun?« Davídsson hatte die schwimmbadblauen Plakate gesehen, die gerade überall in der Stadt hingen. ›Alle Macht geht vom Volk aus! 27. April. Mach mit! Ja, Tempelhof retten!‹, waren die Parolen, und die ganze Stadt diskutierte über den Erhalt des Flughafens, aber er hatte bisher noch keinen Zusammenhang zu dem Fall gesehen.
»Der Schwerbelastungskörper und der Flughafen stammen beide aus derselben Zeit. Alles dreht sich dabei um die Welthauptstadt Germania und ihre Planung, und vor allem geht es dabei um den Umgang mit Relikten aus dieser Zeit. Ich sehe da
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