Mordlast
wachsamer werden ließ. Er vergaß für einen Moment alles um sich herum. Die Frau gegenüber, die Gedanken an die Innenrevision, an Lovísa und ihren plötzlichen Babywunsch und an Fabian Schubert, der völlig alleine gelassen im Krankenhaus lag. Seine Gedanken drehten sich nur noch um den Fall und konzentrierten sich nur auf einen Punkt in der langen deutschen Geschichte, der eine entscheidende Rolle dabei spielen musste.
»Er hat bei der Planung des Schwerbelastungskörpers mitgearbeitet«, sagte er plötzlich, einer Eingebung folgend.
»Ja, woher wussten Sie das?«
»Es passt alles zusammen.«
»Eigentlich nicht. Bernd Propstmeyer hat diese Wohnung erst Jahre später von uns zugewiesen bekommen und keiner weiß mehr so recht, warum.« Sie sah ihn an. »Ich verstehe das nicht.«
»Gibt es noch eine andere Wohnung?«
Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Aktendeckel. »Bernd Propstmeyer hat, als er sich um die Wohnung in den Ceciliengärten beworben hat, eine Adresse in Mitte angegeben.«
»Die brauche ich.«
Sie sagte nichts.
Davídsson sah sich in der Bar um. Am Tresen wurde ein neuer Chugoku gemixt. Der Mann wusste mit den Zutaten umzugehen. Er beherrschte sein Handwerk.
Neben ihnen saß ein junges Paar, das sich dauernd verliebte Blicke zuwarf. Er hatte versucht es zu ignorieren und an seine Schwester gedacht. Aber jetzt beobachtete er sie. Sie sagte etwas, was er nicht verstand, aber er konnte an den Blicken des Mannes erkennen, dass es ihn verlegen machte.
Die Umgebung lud zum Flirten ein. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Frau, die ihm gegenübersaß und an ihrem Cocktail nippte.
»Ich bin erst seit Kurzem bei der BVG«, sagte sie, als setzte sie ein abgebrochenes Gespräch fort.
»Wo waren sie vorher?«
»Ich war beim Bundespresseamt.«
Er nickte und begriff erst Sekunden später, was sie gesagt hatte. »Sie haben für die Regierung gearbeitet?«
»Ja.«
»Und wie kommt es, dass Sie jetzt bei der BVG sind?«
»Wohnen Sie hier in Mitte?« Sie sah ihn mit einem Blick an, den er nicht zu deuten vermochte.
Er nickte.
Davídsson strömte ein Geruch aus einer anderen Welt entgegen. Er hatte das schon oft gedacht, wenn er in eine neue Stadt kam und sich seine Lungen im Flughafengebäude mit der Luft der neuen Umgebung füllten. Vielleicht war es das Reinigungsmittel oder es waren die Pflanzen, die Baustoffe und die Menschen in der anderen Stadt.
Jetzt war der Geruch nicht neu. Er erinnerte ihn an seine Vergangenheit. Er hatte ihn schon lange nicht mehr wahrgenommen und er hatte ihn vermisst. Es war etwas anderes als der modrige Geruch aus dem kleinen Lebensmittelgeschäft.
Besser.
Es duftete nach der roten Wellblechhütte mit dem grünen Dach in der Njálsgata.
Er beobachtete seine Schwester durch die Fenster des kleinen Flures, während er seine Schuhe auszog und die Schuhspanner anlegte. Irgendwie hatte sie es geschafft, den Geruch des 2.380 Kilometer entfernten Drekinn-Grills aus Reykjavík in sein Wohnzimmer zu bringen.
Sie lächelte, als sie ihn sah.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte er, als er die Burger in der silbernen Folie auf der Theke entdeckte.
»Ich kann zaubern.« Ihre Augen blitzten auf. Sie wusste, wie sehr ihm diese Cheeseburger schmeckten – wie sehr sie ihn an seine Heimat erinnerten.
Sie setzten sich auf die Couch und aßen.
Davídsson dachte an das vollgestopfte Häuschen, an die holzverkleideten Wände und die niedrigen Styropordecken. Er hatte häufig auf den einfachen Barhockern gesessen und das wunderbare würzig-lockere Fleisch mit dieser unglaublichen Soße genossen. Auf dem Tresen stand immer eine Papierrolle, die man auch brauchte, um sich die Hände nach dem Essen abzuputzen. Und ein paar Zeitungen lagen griffbereit, aber meistens hatte er sie nicht gelesen. Er hatte sich einfach mit den Leuten unterhalten, die hereinkamen, um Süßigkeiten oder Chips zu kaufen. Manche kauften auch Badeutensilien oder Getränke. Aber die meisten kamen, um Burger zu essen. Er wusste nicht genau, warum diese anspruchslose Hütte so eine Anziehungskraft auf die Bewohner der Stadt ausübte. Ob es an eben dieser Einfachheit lag oder daran, dass man sich hier ungezwungen unterhalten konnte, oder ob es wirklich am Essen lag, das hier auf den Grill kam.
»Ich war beim Drekinn-Grill und habe mir die Zutaten alle einzeln verpacken lassen. Pétur hat zwar etwas seltsam geguckt, aber er hat es schließlich gemacht, als ich ihm gesagt habe, dass ich dich besuchen
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