Mordlast
die Zahlen, die er bereits kannte und die er alle in der ViCLAS-Datenbank notiert hatte, die sich allmählich zu einem spinnennetzähnlichen Geflecht entwickelt hatte.
Das zweite Plakat war grün und berichtete über Germania und die größenwahnsinnigen Pläne einer Stadt von Albert Speer. Davídsson ging weiter zum Dritten. Es war den französischen Zwangsarbeitern gewidmet, die den Schwerbelastungskörper bauen mussten.
Er sah die Namen, die man in Archiven gefunden hatte. Es waren Widerstandskämpfer der Résistance, die dazu gezwungen worden waren, die schwere Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen auszuführen, und er las die Namen derer, die dabei ihr Leben gelassen hatte. Die Schüler hatten eine Seite aus einem Bericht der Alliierten kopiert und auf das lilafarbene Papier geklebt.
Er las die Worte, ohne glauben zu können, was da stand.
Eine junge Frau namens Elodie Moïra war dazu eingeteilt worden, unbrauchbares Arbeitsgerät zu reparieren und zu reinigen. Dazu musste sie über das Gerüst zu den Arbeitern klettern, um die Schaufeln und Kellen abzuholen. Dabei war sie offensichtlich über etwas gestolpert und in den Beton gestürzt, den die Arbeiter gerade aufgetragen hatten. Moïra drohte in dem sandigen Beton einzusinken und die Arbeiter versuchten sie daraus zu befreien, aber der Wachsoldat befahl unter Androhung der Erschießung eines jeden, der Moïra helfen würde, sie wegen ihrer angeblichen Unvorsichtigkeit sterben zu lassen.
»Ihr Tod soll als Warnung an alle Arbeiter dienen«, habe der Soldat damals laut Augenzeugenberichten gesagt.
Die Arbeiter wurden gezwungen, während ihres Todeskampfes immer weitere Schichten um sie herum zu betonieren, bis Elodie Moïra unter dem Beton lebendig begraben worden war.
Ólafur Davídsson starrte das Plakat an.
Er sah erst jetzt die abgerissenen Ecken und die Flecken auf dem Papier, aber er schaute einfach durch sie hindurch.
Er hatte aufgehört, an die Hitze zu denken, die sich in dem Klassenzimmer aufgestaut hatte. Er spürte jetzt, dass sein Puls zu rasen begann und der Kragen seines Hemdes ihm die Kehle abschnürte. Er öffnete die beiden oberen Knöpfe und löste den Krawattenknoten, bevor er sich wie in Trance einen Stuhl von einer Tischreihe nahm, um sich anschließend direkt vor das Plakat zu setzen.
Trotz der kühlen Sprache des Berichtes begriff er jetzt die eigentliche Dimension des Falles. Die Rachegefühle, die sich aufgestaut haben, mussten bei demjenigen, der diese Hölle überlebt hatte.
Irgendjemand hatte Rache an Bernd Propstmeyer geübt. Für das, was er getan hatte, oder für das, was sein Vater getan hatte.
Für all die Grausamkeit, die es in seiner Familie gegeben hatte.
Das stand jetzt für ihn fest.
Davídsson sah sich nach einer Weile das letzte Plakat an. Die Schüler hatten Informationen zu der Sanierung des Schwerbelastungskörpers zusammengetragen. Ein Zeitungsartikel berichtete davon, dass man zur Feststellung von Rissen im Beton eine neue Methode am Schwerbelastungskörper getestet hatte. Davídsson notierte sich den Namen des Verfahrens: Modular Ultra-Sonic Imaging . Ein Schüler hatte ›Doktorspiele‹ daneben geschrieben. Davídsson sah sich die schematischen Zeichnungen aus dem Artikel an und versuchte sich vorzustellen, was sie zu bedeuten hatten.
Der Regen sorgte für eine kurze Abkühlung, nachdem die Luftfeuchtigkeit unerträglich geworden war.
»Endlich Regen«, sagte Engbers vom Fahrersitz aus. Er schaltete die Scheibenwischer ein, die langsam kratzend das Wasser von der Scheibe schoben. In dem Auto roch es nach Rauch. Davídsson hatte den überquellenden Aschenbecher gesehen, den Engbers schnell zugeschoben hatte, bevor er eingestiegen war.
Davídsson hatte den Mercedes wieder bei der Mietstation am Flughafen Tegel abgegeben. Der Tag mit Martina Krug war vorbei und er hatte kein Wort mit ihr gesprochen. Er hatte es noch einige Male versucht, sie auf dem Handy zu erreichen, aber sie hatte nicht abgenommen.
Auf dem Rücksitz schob sich seine schwarze Ledertasche träge hin und her. Er war noch nicht dazu gekommen, seine Sachen nach Hause zu bringen.
»Wohin als Erstes?«
»Bevor wir mit Werner sprechen, möchte ich noch kurz zu Hause vorbei.«
In seiner Wohnung roch es noch nach Wärme und Staub. Er schaltete den Kaffeevollautomaten ein, bevor er jedes Fenster in der Wohnung öffnete. Der Duft von Kaffee vermischte sich mit der sauberen Luft, die der Regen hinterließ.
»Scheint so, als wäre
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