Mordlicht
den
Marktplatz in Richtung des altehrwürdigen Rathauses. Ohne auf den Verkehr zu achten,
überquerte er die schmale Norderstraße, die am Marktplatz vorbeiführte. Ein
Autofahrer, der den unachtsamen Fußgänger schon von weitem gesehen hatte,
drosselte sein Tempo, strafte den Penner aber mit einem wütenden Hupen. Der
revanchierte sich mit dem Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers und wankte
weiter in Richtung des schmalen Durchlasses im Rathaus, der zu der dahinter
liegenden Fußgängerzone, dem Schlossgang, führte. Kurz nach dem Torbogen
öffnete sich die Gasse, und von links drang der unangenehme Geruch der
öffentlichen Toilette herüber. Der Mann in der schmutzigen Kleidung blieb
stehen und zündete sich mit unsicherer Hand eine weitere Zigarette an. Dann
ging er mit gesenktem Haupt weiter Richtung Schloss. In den Fenstern der
schmucken Häuser entlang der Fußgängerzone brannte Licht. Auch im Café
Jacqueline, gleich neben der Schlossbuchhandlung am alten Brauereiplatz, war
noch Betrieb. Ein wenig weiter beleuchteten die hellen Fenster des
repräsentativen Hauses, in dem Dr. Hinrichsen seine Praxis hatte, das Pflaster
der urigen Straße. Laut klapperten die Absätze einer Frau, die von der
Schlossseite in den Fußweg eingebogen war. Als sie den Penner auf dem sonst
menschenleeren Weg entgegenkommen sah, stockte sie kurz, gab sich dann aber
einen Ruck, wich zur Seite aus, die hier von dichtem Buschwerk gesäumt wurde,
und schien froh zu sein, dass sie die unheimliche Gestalt passiert hatte.
Der Penner schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, rülpste
laut und vernehmlich und überquerte die Straße am Ende der Fußgängerzone, um
auf der gegenüberliegenden Straßenseite ins Dunkel der Grünanlagen abzutauchen.
Er fluchte leise vor sich hin, als er sich mühsam auf den Stufen zum
unbefestigten Weg an der Schlossgräfte hinabtastete. Kurz darauf überquerte er
die menschenleere Zufahrtsstraße zum »Schloss vor Husum«, wandte sich nach
rechts und strebte dem Eingang mit dem schmiedeeisernen Tor zu.
Nur schwach drang der Lichtschimmer der Stadt in den
dunklen Schlosspark. Schemenhaft, mehr zu ahnen als zu erkennen, lag voraus das
Storm-Denkmal. Der Penner schlug den Weg nach links ein, ließ den dunklen
Spielplatz unbeachtet und wankte mit unsicheren Schritten auf dem Sandweg an
den Rückfronten und gemauerten Grundstücksabgrenzungen der »Neustadt« entlang.
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er jetzt etwas mehr
erkennen konnte. Die mächtigen Bäume mit ihren immer noch belaubten Kronen
bildeten fast ein Dach über das Parkgelände, über die Wiesen kroch die erste
Feuchtigkeit, die im Laufe der frühen Morgenstunden sicher wieder zu Bodennebel
führen würde. Der Mann sah schon die Umrisse des alten Wasserturms. Dort würde
er den Park wieder verlassen und seinen Weg auf der hell erleuchteten
»Neustadt« fortsetzen.
Vor der dunklen Mauer zur linken Hand stand eine große
Tanne mit einer Bank davor. Er hatte gerade diese Stelle passiert, als er
hinter sich ein Geräusch vernahm. Ehe er sich umsehen oder reagieren konnte,
erhielt er einen furchtbaren Stoß in den Rücken, stolperte nach vorn und
versuchte, den Sturz durch einen Ausfallschritt zu vermeiden.
SIEBEN
Erst war ein dumpfes
Dröhnen zu hören, dann schwoll der Lärm an und ging langsam in ein
gleichmäßiges, kraftvolles Spektakel über.
Christoph hatte an
diesem Morgen gerade das Büro betreten und wollte soeben Platz an seinem
Schreibtisch nehmen, als er aus dem Fenster durch den Lärm abgelenkt wurde und
zum gegenüber liegenden Bahnhof sah. Kurz darauf tauchte die Diesellokomotive
mit den fünf schmutzigen roten Wagen auf. Es waren immer fünf Anhänger, die der
Regionalzug nach Westerland mit sich führte. Und sie waren immer verdreckt.
Man hat fast den
Eindruck, die Deutsche Bahn wartet auf kräftigen Regen, statt ihren Fuhrpark
gelegentlich einmal durch eine Waschanlage zu fahren, dachte Christoph. Aber
nun sollte es nicht mehr lange dauern, bis die Fahrzeuge der ehemaligen
Staatseisenbahn durch den modernen Fuhrpark einer privaten
Eisenbahngesellschaft abgelöst werden sollten, die mit ihren blitzsauberen und
fast fröhlich lackierten Wagen bereits weite Teile des Landes bediente.
Das würde dann
wieder zum Bahnhof der Stadt passen, der gepflegt und frei von Graffiti war und
sich damit wohltuend von Bahnhofsbauten absetzte, deren Unterführungen häufig
wie das größte Urinal der Gemeinde stanken. Nur die
Weitere Kostenlose Bücher