MORDMETHODEN
eine ganze Menge Ungereimtheiten. Hauptmann hatte immer beteuert, am Tag der Entführung in der Majestic-Siedlung gearbeitet zu haben. Das konnte ihm einzig ein 87-jähriger, alterssichtiger Augenzeuge widerlegen, der Hauptmann angeblich am Morgen der Tat in der Nähe des Lindbergh’schen Hauses gesehen hatte. Weiterhin beteuerte der Angeklagte bis zuletzt seine Unschuld und wirkte im Prozess zwischendurch sogar so entspannt, dass er, ganz ohne Überheblichkeit, lächelnd zurückgelehnt in seinem Stuhl saß. Er konnte wohl selbst nicht glauben, was da vor sich ging. Drittens war das angeblich herausgesägte Stück Holz aus dem Boden der Hauptmann’schen Wohnung gut eineinhalb Millimeter dicker als die benachbarten Bohlen. Wie konnte das sein? Viertens fehlten die direkten Anschlussstücke für dieses Holzstück, sodass eine eindeutige Aussage darüber, ob das Holz der Leiter tatsächlich aus dem Boden Hauptmanns stammte, nicht möglich war. Schließlich waren alle Beteiligten so von derSchuld Hauptmanns überzeugt, dass es ohne weiteres denkbar war, dass jemand Condons Adresse in Hauptmanns Schrank notiert hatte, um ihn stärker zu belasten (solches planting von Beweisen war damals nicht ungewöhnlich). Sechstens rochen die Goldzertifikate, die schon vor Hauptmanns Festnahme in Umlauf waren, stets muffig. Das stimmte mit der Aussage überein, sie seien feucht geworden und erst dann von ihm, Hauptmann, teils ausgegeben, teils besser versteckt worden. Siebtens traf sich der neue Gouverneur von New Jersey, Harold Hoffman, in der Todeszelle mit Hauptmann und kam mit der Überzeugung heraus, dass der Deutsche unschuldig sei. Der Politiker wurde 1938 abgewählt, unter anderem deshalb, weil er sich zu stark für die Sache des deutschen Einwanderers eingesetzt hatte. Achtens war es sehr gut vorstellbar, dass Isidor Fish, von dem das Geld angeblich stammte, in Schwarzgeldgeschäfte und Geldwäsche verwickelt war. Er hatte andere Goldzertifikate aus dem Lösegeld bereits unter Marktpreis verkauft. Neuntens hatte Fish einen polnischen Akzent, den kein Amerikaner von einem deutschen unterscheiden konnte. Und zehntens war auf einmal Charles Lindbergh sen. samt Familie verschwunden.
Reisende soll man nicht aufhalten
Gouverneur Hoffman war ein aufmerksamer Mann und hätte beinahe den ganzen Fall zum Kippen gebracht. Als er Hauptmann im Sommer 1935 besuchte, bot ihm der Todeskandidat an, einen Lügendetektortest zu machen oder ein Wahrheitsserum zu schlucken. Er war von seiner Unschuld völlig überzeugt und machte, anders als die meisten schuldigen Täter, sinnvolle Vorschläge, um das zu belegen.
Es war aber kaum möglich, Menschen dafür zu interessieren, dass Hauptmann eventuell nicht der Täter war. Lindbergh, der Held, hatte die Stimme Hauptmanns als die von Cemetery John identifiziert. Wer daran zweifelte, dass Hauptmannder Täter war, zweifelte auch an den Fähigkeiten Lindberghs. Und das war für die meisten US-Amerikaner so unvorstellbar wie die Vorstellung, dass Einstein kein Genie gewesen sei. Es konnte einfach nicht sein.
Hoffman ging noch weiter. Er traf sich mit allen entscheidenden Ermittlern und besah sich das Stück Holz, das angeblich aus dem Boden der Hauptmann’schen Wohnung herausgesägt worden war. Der angebliche Sachbeweis überzeugte auf einmal niemanden mehr. Daraufhin tat Hoffman etwas, was mehr Mut erforderte, als ihn viele Politiker in einer derartigen Situation aufbringen würden. Er teilte der Presse mit, dass er sich beim Begnadigungsausschuss, dem er angehörte, für einen Aufschub der Todesstrafe Hauptmanns einsetzen würde. Anders als heute hatte der Gouverneur damals kein alleiniges Einspruchsrecht gegen die Ausführung der Todesstrafe, und das Oberste Gericht hatte auch noch mitzureden. Hoffman lehnte sich politisch also sehr weit aus dem Fenster. Doch sowohl Hauptmann als auch dessen Frau hatten ihn überzeugt, dass das Gericht und vor allem die Jury ein Fehlurteil gefällt hatten.
Kaum hatte Hoffman sein Vorhaben am 5. Dezember verkündet, ordnete Lindbergh an, dass Anne alles für eine sofortige Abreise der Familie nach Europa bereitmachen solle. Lindbergh ließ gegenüber der Presse durchsickern, dass er den Medienrummel satt habe, und am 22. Dezember 1935 verließ er das Land. Die New York Times brachte es auf Seite eins, und der Journalist gewann dafür den Pulitzer-Preis für die beste Zeitungsgeschichte des Jahres.
Doch heute erscheinen Lindberghs Handlungen in einem anderen
Weitere Kostenlose Bücher