Mords-Bescherung
Fläschchen in die Hand gedrückt. Die kleine Flasche, die immer
noch gut verstaut in der Seitentasche seines Koffers lag und die Lösung sein
könnte. Ein paar Tropfen nur, und der Weg wäre für ihn frei. Gelegenheiten, um
Martin2 die Tropfen heimlich zu verabreichen, gab es zur Genüge.
Tu es nicht, sagte ihm seine innere Stimme, du schaffst es auch so.
»Und wenn nicht?«, entgegnete er laut. »Dann war die ganze
Mordsplackerei hier ums …« Er hielt inne. Trotzig wandte er sich von seinem
Spiegelbild ab, riss die Tür auf und wäre fast mit Siggi zusammengeprallt, der
draußen wartete. Ohne zu grüßen, stampfte er an ihm vorbei. Noch so eine
Lusche, dachte er. Lauter hirnrissige Luschen waren in diesem Jahr auf der Alm,
und die Jury war so blind wie … Die Jury! Er schnaufte. Alles abgehalfterte C-
und D-Promis, die für einen Arsch voll Geld hier am Drücker saßen. Ehemalige
Skifahrer, Möchtegernmoderatoren und Bierzeltträllerer. Er atmete ein paarmal
tief ein und aus, verlangsamte seinen Schritt und zwang sich zur Ruhe.
Konzentriere dich auf dich, mahnte seine innere Stimme, alles andere
verklebt dir das Hirn.
Er zog seinen Tagesplan aus der Tasche und vergewisserte sich, ob er
noch alles richtig im Kopf abgespeichert hatte:
09.30–10.00 Uhr
Frühstück
10.00–12.30 Uhr
Rentierschlittenfahren
(Außenbereich/mit Kostüm)
12.30–13.00 Uhr
Mittagessen
13.00–13.30 Uhr
Punschtrinken/Gebäckessen
13.30–15.00 Uhr
Schneesturmstehen
(Raum 1/06 mit Geschenksack, 10 kg)
15.00–16.00 Uhr
Kinder-auf-Knie-Schaukeln (E/04)
16.00–18.00 Uhr
Challenge
18.00–18.30 Uhr
Abendessen
18.30–20.00 Uhr
Fototermin
(an der Freeclimber-Wand)
20.00–21.00 Uhr
Weihnachtslieder singen/
Gedichte aufsagen
21.00–22.00 Uhr
Walk vor der Jury
(in Badehose und Mütze)
Der Fototermin machte ihm keine großen Sorgen, da hatte er
bisher immer gut abgeschnitten. In voller Montur im brütend heißen Studio zu
sitzen und den entspannten Weihnachtsmann in der Karibik zu mimen, machte ihm
nichts aus. Auch die Spinnen, die sie ihm letztens auf die Mütze gesetzt
hatten, waren kein Problem. Jedes Mal hatte er ein tolles Foto bekommen. Wenn
die Weihnachtsmann-Einkäufer kamen und seine Mappe sahen, waren sie beeindruckt
und er sofort in der engeren Auswahl. Und trotzdem gewann fast immer der Fatzke
diese Challenges. Warum auch immer. Der Knallkopf hatte keinen runderen Bauch,
keine weißeren Haare, keinen buschigeren Bart, und doch fiel die Wahl fast
immer auf ihn.
Aber heute musste er den Job als Fernseh-Weihnachtsmann für diese
Zimtsterne-Firma bekommen, denn es gab zur Belohnung nicht nur ein Lob von der
Jury, sondern als Extrabelohnung einen Berg von Würstchen. Nürnberger
Bratwürstchen, Currywürstchen und Wienerle bis zum Abwinken. Ihm lief allein
bei dem Gedanken das Wasser im Mund zusammen.
Das ganze Jahr über trainieren war das eine, hier zu sein, das
andere. Mitten im Sommer auf einer Alm irgendwo in der Alpen-Walachei von allem
abgeschottet zu sitzen und sich in all den Dingen zu schinden, die ab Mitte
September auf die fünfzig Besten zukommen würden, das musste man können. Nein,
man musste wollen. Jeden Tag literweise Punsch und Glühwein gut gelaunt in sich
hineinzuschütten, das war keine Passion, das war hartes Training. Stundenlanges
blödsinniges, vor allem unerzogenes und rotzfreches Kindergebrabbel (per
Kopfhörer) über sich ergehen zu lassen und dabei gleichzeitig wohlwollend in
verzückte Müttergesichter (per Leinwand) zu schauen, war Folter. Aber hier
waren die Besten der Besten. Und nur einer konnte »Der Weihnachtsmann des
Jahres« werden. Bekam die Sahne-Jobs.
Eigentlich hatte er Basketballer werden wollen, von allen bewundert,
wie Nowitzki oder so. Aber seine Gene hatten ihm einen Strich durch die
Rechnung gemacht. Er war kein Sportlertyp, und besonders groß war er auch nicht
geworden. Mit zwanzig hatte er schlohweiße und lockige Haare, einen
Bauchansatz, der auch mit viel Hanteltraining nicht verschwinden wollte, und
damit stand fest, dass er in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters treten
würde. Allerdings war er jetzt schon besser als beide zusammen, denn beide
hatten es nicht bis auf die Alm geschafft. Und die war das Ziel eines jeden
Weihnachtsmannes, doch nur fünfzig wurden in jedem Jahr ausgewählt. Zum dritten
Mal war er nun hier, und diesmal würde er gewinnen, würde seinem Vater und
Großvater zeigen, dass man alles erreichen konnte, wenn man nur wollte.
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