Mordsee
Erwähnung. Er erregte kein Mitgefühl, geschweige denn Sympathie. Schließlich fürchtete man ihn wie einen Aussätzigen und mied seine Gegenwart.
Auf der Beerdigungsfeier stand er in seinem einzigen Anzug in der ersten Reihe einer Trauergemeinde junger und alter Menschen in Uniform. Er fühlte sich stigmatisiert und mutterseelenallein. Auf dem Weg aus der Kirche ans offene Grab standen die Crewkameraden seines Sohns Spalier und gaben ihm unter aufgestellten Ruderblättern das letzte Geleit. Als er unter den jungen Soldaten einige weibliche Kadetten entdeckte, riss der Anblick ihn aus seiner Lethargie. Er fragte sich, wer von ihnen die Freundin seines Sohnes und die flüchtige Trägerin seiner Hoffnungen gewesen war. Warum hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet? Warum ließ sie ihn allein, ohne ein tröstendes Wort?
Das Aufflackern seiner Lebensgeister erlosch, als die Grabreden gehalten wurden. Am liebsten wäre er davongelaufen. Er spürte den Flachmann in seiner Brusttasche. Er verließ die Trauergemeinde, als er eine Gelegenheit sah, die Toilette aufzusuchen. In der Kabine nahm er einen kräftigen Schluck, nach dem Händewaschen noch einen. Bevor er den Raum verließ, begann sich Wärme in ihm auszubreiten. Er schöpfte Mut und rief sich in Erinnerung, wann er den Zug nach Hamburg erreichen musste, um rechtzeitig auf sein Schiff zu kommen.
Über dem Ozean
Es war zwölf Uhr Greenwich Time. Um 14 Uhr Ortszeit würden sie in Québec landen, hatte der Flugkapitän seine Passagiere informiert. Das Wetter werde keine Probleme machen.
Die Maschine war nur halb besetzt. Außer dem gleichmäßigen Rauschen des riesigen Jets war nichts zu hören. Einige Kadetten hatten sich auf den freien Sitzreihen langgemacht und schliefen. Andere hatten Kopfhörer über die Ohren gestülpt. Die Staatsanwälte saßen weit vorn in der ersten Reihe, gleich hinter der Pantry, in der die Flugbegleiter geräuschlos den Servierwagen mit Getränken befüllten.
Jung sah durch das Kabinenfenster unter sich den Ozean glitzern. Schräg vor ihm ragte die Tragfläche des Airbusses in die klare Luft wie ein Stück unbewegtes Blech.
»Haben Sie Flugangst?«, fragte er leise seine Nachbarin, während er auf der unendlichen Wasserwüste unter ihnen irgendetwas suchte, an dem sein Auge sich festhalten konnte.
»Nein, Chef, kenn ich nicht.«
Er hatte es bisher vermieden, sie mit Namen anzureden. ›Frau Bakkens‹ klang gespreizt und Fräulein ging schon gar nicht. ›Charlotte‹ fand er eigentlich gut, aber auch sehr vornehm, und die burschikose Abkürzung ›Charly‹ passte nicht zu ihrer Erscheinung. Für den Vornamen war es überdies noch viel zu früh.
»Wann fangen wir denn nun mit dem Praktikum an, Chef?«, fragte sie mit gespielter Forschheit und lächelte ihn an.
»Wir sind mitten drin.«
»Wie? Flugangst ist für mich kein Thema.«
»Das meine ich nicht. Ich rede von Geduld. Die Zeit vergeht scheinbar nutzlos. Normalerweise warten wir einfach, bis sie vorbei ist.«
»Scheint mir nicht gerade viel mit Polizeiarbeit zu tun zu haben.«
»Das ist ein Fehler.«
»Versteh ich nicht, Chef.«
»Ich will es Ihnen erklären. Die Ermittlungsarbeit ist in der Regel unspektakulär, überhaupt nicht aufregend oder sensationell. Ganz und gar nicht wie im Fernsehen. Das Wichtigste sind Schnelligkeit, eine akribische Spurensicherung und eine ausgefeilte Kriminaltechnik. Sehr wissenschaftlich, sehr innovativ, sehr kostenintensiv. Wir, die Ermittler, warten. Auf die Ergebnisse. Und dann werten wir sie aus. Am Schreibtisch. Nicht im Helicopter oder in der Kneipe oder mit dem Seitensprung im Bett.«
»Okay, das kapier ich. Aber das ist was anderes, als im Flugzeug zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren.«
»Gerade dabei können Sie viel lernen.«
»Und was sollte das sein?«
»Sich auf Ihre Sinne zu konzentrieren. Sie zu schärfen. Ihre Gefühle wahrzunehmen. Ihnen einen Namen zu geben.«
»Einen Namen? Was soll das denn, Chef?«
Sie fixierte ihn ungläubig von der Seite. Er schien das zu spüren und wandte sich ihr zu.
»Was fühlen Sie in diesem Augenblick? Mal ganz ehrlich.«
»Langeweile.«
»Langeweile ist kein Gefühl, sondern ein Zustand. Beschreiben Sie ihn.«
»Also, ich will nicht rumsitzen und meine Zeit vertrödeln. Joggen ist ja hier nicht möglich. Am liebsten hätte ich ein paar Geräte an Bord. Für die Fitness, verstehen Sie? Und wenn es auch das nicht sein kann, dann wenigstens etwas Spannendes, einen guten
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