Mordsee
Plötzlich fiel ihr ein, dass es eigentlich Zeit für ihre Regel war. Sie spürte keine Vorzeichen. Normalerweise konnte sie sich blind darauf verlassen. Wahrscheinlich lag es an dem emotionalen Stress. Was hätte sie darum gegeben, sich niemals mit Momme getroffen zu haben. Der Abend hatte sich zu einem einzigen Desaster entwickelt. Hatte sie es nicht kommen sehen? Warum habe ich nicht auf meine innere Stimme gehört, fragte sie sich immer wieder. Sie wollte absolut nichts damit zu tun haben, gerade jetzt, wo es anfing, interessant und abenteuerlich zu werden. Sie brauchte ihre Kraft für sich und wollte sie nicht verschwenden, schon gar nicht an die Auseinandersetzung mit einem grünen Jungen und seinen blöden Vorstellungen. Sie schob ihre Gedanken beiseite und atmete tief ein und wieder aus.
Zu allem Überfluss war auch noch ihre Lieblingsjacke verschwunden. Sie hatte im Restaurant nachgefragt. Francesco hatte in jeder Ecke gesucht, aber das schwarze Lederblouson nirgendwo finden können. Und nun diese Scheißbeerdigung! Ihre Versuche, sich davor zu drücken, waren gescheitert. Als sie ihrem Inspektionschef ernstlich weismachen wollte, dass sie an einer Beerdigungs-Phobie leide, die zu unkontrollierten Reaktionen und in Folge davon möglicherweise zu Störungen der feierlichen Zeremonie führen könnte, hatte er sie kopfschüttelnd an den Schulleiter verwiesen. Der Admiral hatte ihr geduldig zugehört und sie dann ohne viel Worte vor die Wahl gestellt: entweder Teilnahme an der Beerdigungsfeier oder Abbruch der Ausbildung. Seine Kälte hatte sie nicht weiter berührt. Sie bewunderte ihn sogar dafür.
*
»Ellen, wie geht es dir?«
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um und sah sie aus traurigen Augen an. Die Weinerlichkeit in ihrer Stimme nervte sie.
»Was meinst du?«, fragte Ellen schnippisch.
»Der arme Junge wird doch morgen beerdigt.«
»Ja, und?«
»Mein Gott, Kind, was bist du herzlos!«
»Ein bisschen weniger Herz und dafür mehr Verstand würde vielen sehr guttun.«
»Ellen, du warst doch mit ihm zusammen. Wie kannst du nur so reden.«
»Ich war nie mit ihm zusammen , Mama. Und ich war schon lange weg, als es passierte.«
»Wärst du nur geblieben. Vielleicht lebte er dann noch.« Sie wandte sich dem Spülbecken zu und wusch die Frühstücksteller ab. Ellen verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen und erwiderte brutal: »Wenn er nüchtern gewesen wäre, dann lebte er vielleicht noch.«
Es schien ihr, als zuckte ihre Mutter zusammen.
»So kenne ich dich gar nicht, mein Kind. Was ist denn nur los mit dir?«
»Mama, bitte, lass uns von was anderem reden, ja? In wenigen Tagen bin ich auf See.«
»Wie du meinst. Aber es ist doch wirklich traurig, wenn ein junger Mensch auf solch tragische Art und Weise sein Leben verliert.«
»Tragisch? Was soll daran tragisch sein? Er ist ins Wasser gefallen. Das ist einfach nur blöd.«
»Aber wir haben mit ihm zusammen euer Gelöbnis gefeiert, Ellen. Darüber kann man doch nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.«
»Mama, er ist tot. Er hatte getrunken, nicht ich.«
»Kind, du machst mir Angst. Weiß dein Vater, wie du darüber redest?«
»Papa arbeitet. Ich habe nicht mit ihm gesprochen und will es auch nicht. Es ist so, wie es ist. Leider, kann ich nur sagen. Aber ich muss mich jetzt konzentrieren auf das, was kommt, verstehst du das denn nicht? Es wird hart werden, Mama. Papa sagt das auch.«
»Schon gut! Hast du für morgen alles zusammen?«
»Hab ich. Nachher muss ich zurück. Gibt’s noch ein Stück Schokoladenkuchen?«
»Sicher. Ich weiß doch, was mein Mädchen mag.«
Ellen war froh, das Gespräch auf eine unverfängliche Ebene gelotst zu haben. Sie kannte ihre Mutter und wusste, wie man sie manipulieren musste, um zu bekommen, was man wollte. Ihr gefiel das nicht.
*
Er konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie er nach Flensburg gekommen war. Ihm kam es so vor, als hielte ihn eine Macht in den Klauen, die ihn in einer Art Trance umklammerte. Er erfüllte die Erfordernisse des Alltags wie eine Maschine: emotionslos, effektiv und pünktlich. Sogar das Treffen mit der Polizei überstand er ohne sichtbare Gefühlsregung. Nur der Flachmann in seiner Brusttasche erinnerte ihn an sein Leben davor. Die Beileidsbekundungen seiner Umgebung erreichten ihn nicht. Die angebotene Hilfe und die Unterstützung nahm er hin ohne Dank und Dankbarkeit, wie selbstverständlich und eher so, als gehöre sich das und bedürfe keiner
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