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Mordsee

Mordsee

Titel: Mordsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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aber vorhersehbar.«
    »Vorhersehbar?« Jung zog die Augenbrauen hoch.
    »Ja. Sie haben richtig gehört. Vorhersehbar.«
    »Das verblüfft mich. Wie darf ich das verstehen?«
    »Ich sag Ihnen jetzt mal was: Der Graben zwischen der Welt, aus der die Offiziersanwärter kommen, und unserer Welt hier an Bord wird immer breiter, und die Gefahr, darin zu versinken, immer größer. Vor allem für junge Menschen, deren körperliche und geistige Ausstattung zu wünschen übrig lassen, um es mal vornehm auszudrücken. Unfälle dieser Art werden in Zukunft häufiger zu beklagen sein, glauben Sie einem alten Seemann.«
    »Werden die Kadetten nicht vorher auf ihre Tauglichkeit überprüft?«
    »Ja, sicher. Aber die Anforderungsprofile und unsere Sanität, na ja … « Der Kapitän winkte ab.
    »Müssten die Ausbilder dafür nicht ein Auge haben? Das ist doch ihr Job?«
    »Das ist leichter gesagt als getan. Wir sind keine Übermenschen … «
    »Homines sumus, non dei. Das wussten schon die alten Römer«, redete Jung dazwischen. Charlotte warf ihm einen verzweifelten Blick zu.
    »Kluge Leute damals«, nickte der Kapitän. »Was wollte ich sagen? Ja, richtig: Unsere Arbeit ist ein Ritt auf Messers Schneide. Sie wird immer schärfer. Ich kenne den einen oder anderen von uns, der ebenfalls untergegangen ist, nicht auf See, aber an Land. Ziemliche Scheiße, verstehen Sie?« Er streifte Charlotte mit den Augen, sagte aber nichts, um seine Wortwahl zu entschuldigen.
    »Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Ist die Kadettin … «
    Jung wurde vom Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein älterer Mann betrat den Raum und servierte ihnen den Sherry. Charlotte stieß Jung unter dem Tisch an und zeigte mit den Augen auf die rechte Hand des Seemanns. Seine gekrümmten Finger gaben dem ohnehin kantigen Kerl eine unheimliche Note. Jung wandte sich Charlotte zu und lächelte unmerklich.
    »Danke, Erwin«, sagte der Kapitän freundlich.
    Der Mann nickte stumm und ließ sie wieder allein. Sie prosteten sich zu und tranken einen ersten Schluck. Der Kapitän drehte das Glas genießerisch zwischen den Fingern.
    »Wir waren unterbrochen worden«, nahm er das Gespräch wieder auf und setzte sein Glas auf den Tisch. »Fahren Sie fort. Was wollten Sie wissen, Herr Jung?«
    Jung überlegte angestrengt. »Die Kadettin. Sie war vorher schon einmal aufgefallen. Womit eigentlich?«
    »Wir haben sie aus dem Mast holen müssen. Sie hat da oben Panik bekommen.«
    »Da haben Ihre Ausbilder also gut funktioniert.«
    »Ja. Danach auch«, nahm der Kapitän seine Leute in Schutz.
    »Wieso?«
    »Nach dem Zwischenfall ist sie anders eingeteilt worden und an Deck geblieben.«
    »Aber das hat nicht ausgereicht, sie vor sich selbst zu schützen«, folgerte Jung.
    »Richtig«, bestätigte der Kapitän.
    Jung sah an seinem Gegenüber vorbei nachdenklich aus dem Bulleye. Sein Blick fiel auf eine schier endlose Palisade haushoher Silos jenseits des Hafenbeckens.
    »Mich interessiert noch etwas«, hob er wieder an und lenkte den Blick zurück auf seinen Gastgeber. »Die Techniker sagten mir, sie sei über die Luvkante über Bord gegangen. Woher weiß man das so genau?«
    »Wir sind darauf trainiert, Fluchen, Lärmen, Kreischen, Schreien, egal ob vor Schmerz oder Freude, an Deck zu unterlassen. Das muss so sein, weil Lärm die Arbeit an Deck empfindlich stört. Deswegen setzt ein lauter Schrei den Wachführer sofort in Alarm. Er weiß auf Anhieb, aus welcher Ecke das kommt. Auf diesem Schiff entwickeln Sie ein Ohr dafür, Herr Jung. Die Reaktion meines Offiziers war mustergültig.«
    »Okay. Aber dann stellt sich doch die Frage: Warum hat sie geschrien?«, gab Jung zu bedenken.
    »Das ist doch klar. Vor Schreck natürlich«, erwiderte der Kapitän verständnislos.
    »Ja, schon. Aber was hat den Schrecken ausgelöst?«
    »Der Sturz. Was denn sonst?«, beharrte sein Gegenüber.
    »Ein Sturz kann aber auch von fremder Hand herbeigeführt worden sein. Die Luvkante wirft Fragen auf.«
    Charlotte bewegte sich, als wollte sie etwas sagen. Sie besann sich aber und trank ihr Glas leer.
    »Wollen Sie damit sagen, jemand hat sie absichtlich über Bord geschubst?«, empörte sich der Kapitän. »Wer denn? Das ist doch völlig absurd.«
    »Ich denke, dass … «
    Es klopfte. Die Tür wurde geöffnet und der Seemann betrat, ein Tablett in der Hand balancierend, wieder das Logis.
    »Komm rein, Erwin. Wir warten schon.« Der Kapitän winkte ihn unwirsch heran. »Sie machen mich unruhig, Herr

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