Mordsee
Kommissar. Worauf wollen Sie hinaus?«
Jung entfaltete seine Serviette und legte sie sich auf den Schoß. »Für mich erhebt sich die Frage, ob jemand ihren Tod gewollt haben könnte.«
»Stellen sich die Staatsanwälte diese Frage auch?«
»Noch nicht.«
»Eben. Davon war bisher noch nie die Rede.«
»Das ist richtig, ja. Mir lässt das aber keine Ruhe.«
Der Seemann servierte dem Kapitän als Letztem gerade den dampfenden Labskaus, als ihm das Besteck aus der Hand fiel. Charlotte stieß Jung unter dem Tisch noch einmal an. Der Mann bückte sich, um Messer und Gabel aufzuheben.
»Ich mach das schon, Erwin«, hielt der Kapitän ihn auf. Der Mann nickte und verschwand nach draußen. Der Kapitän säuberte das Besteck und wünschte einen guten Appetit. Sie begannen zu essen. Nach einer Weile legte er Messer und Gabel beiseite.
»Das ist ja abenteuerlich, was Sie da andeuten. Haben Sie noch mehr Gründe für Ihre absurde Behauptung?«
»Ich habe nichts behauptet. Ich habe nur nachgedacht.«
»Nachgedacht? Über was? Das würde ich zu gern wissen.«
Jung antwortete nicht gleich. Er stocherte geistesabwesend im Labskaus auf seinem Teller herum. Schließlich hielt er inne und bemerkte: »Für einen Täter gäbe es keine bessere Gelegenheit als diese Nacht. Sie ist duster, laut und leer.«
»Laut und leer?«, hakte der Kapitän ein.
»Zur fraglichen Zeit stehen außer dem Opfer nur zwei Männer an Deck, in jaulendem Wind und bei grobem Seegang. Beide weit weg vom Opfer. Außer der Wache schläft das Schiff.«
»Ah ja. Verstehe. Okay. Und weiter?«
»Kurz nach ihrem Schrei ist das ganze Schiff alarmiert und auf den Beinen. Entweder ist man an der Rettung beteiligt oder man verfolgt gespannt die Manöver. Ein möglicher Täter kann gar nicht auffällig werden. An eine vorsätzliche Tat denkt keiner. Und das alles auf See, weit weg von Land, Polizei und Spurensicherung. Das ist mehr, als sich ein Täter wünschen kann.«
»Zugegeben, das klingt vorstellbar. Aber wer sollte das tun? Auf meinem Schiff? Absurd.«
»Genau darum geht es. Wer könnte ein Motiv gehabt haben? Wenn es einen Mörder gibt, war er an Bord. Das jedenfalls steht fest.«
Der Kapitän schwieg und aß seinen Teller leer. Charlotte war schon fertig. Sie sah Jung teilnahmslos zu, wie er die letzten Bissen auf die Gabel häufte und in den Mund schob. Der Kommandant beendete die lastende Stille.
»Einer von uns«, murmelte er versunken. »Das ist doch blanker Unsinn.«
Dann richtete er sich auf und sagte mit Nachdruck: »Ein möglicher Täter könnte niemals sicher sein, dass sie ertrinkt. Wenn wir sie lebend aus dem Wasser geholt hätten, wäre er dran gewesen.«
»Dazu musste das Opfer seinen Widersacher oder seine Widersacherin aber erkannt haben.«
»Schon klar. Aber den oder die hätten wir gefunden, darauf können sie sich verlassen. Auf See gibt es Mittel. Das müsste auch der Täter wissen.«
»Vielleicht war er erfahren genug und wusste genau, dass sie unter den herrschenden Bedingungen keine Chance hatte. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat das jedenfalls so gesehen.«
»Meinetwegen. Aber das Motiv. Wo ist es?«, fragte der Kapitän aufgebracht.
»Das kennen wir nicht. Aber Sie kennen die Gerüchte um die Tote, Herr Kapitän, und was man ihr so alles nachsagt, nicht wahr? Sie scheint nicht beliebt gewesen zu sein.«
»Beliebt oder unbeliebt, was heißt das schon? Das sind doch keine Kriterien. Mein Gott, ich bin auch nicht bei allen beliebt.«
»Aber über Sie sind keine Gerüchte im Umlauf«, lachte Jung verhalten. »Über die Kadettin schon«, fügte er ernst hinzu.
»Gerüchte! Das fehlt mir gerade noch! Gerüchte sind mir scheißegal. Hirnloses Gequatsche, an den Haaren herbeigezogen. Manche haben das offensichtlich nötig.«
»Beliebt oder unbeliebt ist man nicht grundlos. Das scheint mir unstrittig.«
»Gut, zugegeben. Aber je länger sie bei uns gewesen wäre, desto irrelevanter würde dies. Das ist ja gerade der Sinn der ganzen Veranstaltung hier. Und selbst wenn sie entgegen aller Regel eine unausstehliche Ziege geblieben wäre, als Motiv für einen Mord ist das in meinen Augen völlig hirnrissig. Auf diesem Schiff? Nein, nein … «
»Sie soll schwanger gewesen sein.«
»Das ist doch absoluter Quatsch«, erregte sich der Kapitän. »Die Obduktion hat nichts dergleichen erbracht. Auch Gewalt war nicht im Spiel. Eine einzige Idiotie, das Ganze.«
Es entstand eine Pause, in der jeder seinen Gedanken nachzuhängen
Weitere Kostenlose Bücher