Mordsfreunde
Ohren, als sie wie eine Einbrecherin auf Zehenspitzen durch ihr eigenes Haus schlich. Es war niemand da, alles sah unberührt aus. Erleichtert schloss sie die Wohnzimmertür und ging ins Schlafzimmer. Sie öffnete den Kleiderschrank und schaute nach ihrer Dienstwaffe, die sie gestern Abend wie üblich in die Schublade mit der Unterwäsche gelegt hatte. Ihre Knie wurden vor Erleichterung weich, als ihre Finger den Lauf der SigSauer P6 berührten.
»Gott sei Dank«, murmelte sie und lehnte sich gegen den Schrank. Ihr Blick fiel auf den Tisch neben ihrem Bett, und sie zuckte zusammen. Sie stand stocksteif da, spürte das Prickeln echter Panik wie einen eisigen Schauer im Nacken. Auf dem Tisch stand eine Vase mit einem Strauß blutroter Rosen. Und die hatte sie selbst dort nicht hingestellt.
Pia flüchtete aus dem Haus in die Box von Gretna und Neuville und kauerte am ganzen Körper zitternd in einer Ecke. Niemand wusste etwas von den roten Rosen, niemand, außer diesem Kerl, der sie damals monatelang verfolgt und schließlich vergewaltigt hatte. Sie hatte mit keiner Menschenseele darüber gesprochen, abgesehen von den Polizisten damals, und so war es ihr im Laufe der Jahre gelungen, die schrecklichen Erlebnisse zu verdrängen. Die Tränen ballten sich in ihrer Kehle zu einem Knoten zusammen, ihr ganzer Körper schmerzte vor Angst. In ihrer Abwesenheit war jemand in ihr Haus eingedrungen und hatte die Blumen neben ihr Bett gestellt, jemand, der genau wusste, was es mit den roten Rosen auf sich hatte! Sie konnte nicht länger alleine auf dem Hof leben. Nur der Gedanke daran, dass jemand in ihrem Haus, in ihrem Schlafzimmer gewesen war, erfüllte sie mit abgrundtiefem Entsetzen. Mit einer Hand wehrte sie das neugierige Fohlen ab, das versuchte, ihre Haare anzuknabbern. Der Traum vom Leben unter einem Dach mit ihren Tieren war ausgeträumt. Schon heute Abend würde sie sich ein Hotelzimmer nehmen und gleich am Montagmorgen einen Makler mit dem Verkauf des Hofes beauftragen. Keine Sekunde länger würde sie hier bleiben! »Hallo?«
Die Silhouette eines Mannes erschien in der Tür der Box. Sein Anblick jagte Pias Adrenalinspiegel in Bruchteilen von Sekunden erneut in schwindelnde Höhen. Sie zuckte hoch, Neuville und Gretna machten einen erschrockenen Satz.
»Ist alles in Ordnung?«, sagte Dr. Christoph Sander besorgt. »Die Haustür stand offen, und da habe ich ...«
Er brach ab und hob die Hände.
»Ich ergebe mich«, er wich einen Schritt zurück. Erst da bemerkte Pia, dass sie die Waffe auf ihn gerichtet hatte, und brach in Tränen aus.
»Oliver?«
Bodenstein fuhr herum und sah Cosima mit verschlafenem Gesicht in der Tür stehen.
»Ich wollte dich nicht wecken.«
»Hast du nicht. Ich war schon wach.«
Cosima trug nur ein T-Shirt, das Haar fiel ihr wirr ins Gesicht, und als sie sich nun gähnend an den Küchentisch setzte, sah sie ihrer Tochter so ähnlich wie eine ältere Schwester.
»Hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte er, »tue ich dir leid?«
»Schrecklich«, sie lächelte. »Was hältst du davon, wenn wir noch mal ins Bett gehen? Du erzählst mir von deinem Fall, und ich erzähle dir auch etwas.«
»Gute Idee«, Bodenstein nickte und gähnte. »Ich bin nämlich dabei, den Überblick zu verlieren. Jede Spur sieht zuerst verheißungsvoll aus und endet dann im Nichts. Auf jeden Fall stehen beide Morde irgendwie miteinander im Zusammenhang.«
Er warf Cosima einen raschen Blick zu und bemerkte erleichtert und erfreut, dass sie ihm aufmerksam und interessiert zuhörte. In den vergangenen Wochen hatte er den Gedankenaustausch mit ihr vermisst. Um sie in ihrem angeschlagenen Zustand nicht noch zusätzlich zu belasten, hatte er ihr wenig von den beiden Fällen erzählt, aber heute Morgen schien sie ihm wieder ganz die alte Cosima zu sein, von Nervosität und Blässe war nichts mehr zu bemerken. Sie gingen nach oben. In dem Moment, als Bodenstein Schuhe, Anzug und Krawatte ausgezogen hatte, verbanden sich plötzlich und unvermittelt die Gedankenfetzen, die in einem wilden Durcheinander in seinem Kopf herumgewirbelt waren. Auf einmal erkannte er die Zusammenhänge glasklar, die er vorher nicht begriffen hatte.
»Jonas' Vater«, sagte er laut.
»Jonas' Vater?«, fragte Cosima vorsichtig nach. »Was ist mit ihm?«
Ivo Percusic und seine Frau hatten beide den Mann auf dem Foto sofort erkannt. Was, wenn Svenjas Behauptung, sie habe ein Verhältnis mit einem
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