Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Paula. Überall lag Spielzeug, ein Fenster war komplett finit Fingerfarben verschmiert. Simon durfte sich im ganzen Haus »entfalten«, wie Doris das nannte, Paula fand, er genoß mehr Freiheiten, als Max je hatte. Entsprechend stellte er immer mehr die Regeln in Frage, die in Paulas Haushalt galten, was ihr Verhältnis nicht gerade verbesserte. Paula war der konservativen Ansicht, Spielsachen gehörten ins Kinderzimmer, zumindest zum überwiegenden Teil, und Fensterscheiben seien da, um Licht ins Haus zu lassen.
Aus der Küche drang ein zischendes Geräusch, worauf Doris hinüberrannte. Paula folgte ihr. Schmutziger grauer Schaum quoll blasig über den Rand eines großen Topfes, der auf dem blankgeputzten Herd stand. Mit einer langen Gabel hob Doris einen mordsmäßigen Knochen, an dem halbverkochte Fleischfetzen hingen, aus der übelriechenden Brühe und hielt ihn unter den kalten Wasserhahn.
»Gott, wie das stinkt! Warum nimmst du kein Dosenfutter für Anton?«
»Ich wechsle ab. Er ist im Zahnwechsel, er braucht was zum Nagen.« Paula hielt sich die Nase zu, ihr in letzter Zeit sehr empfindlicher Magen drehte sich um. Sie lief rasch hinaus, zur Terrassentür des Wohnzimmers. Im verschneiten Garten versuchte Simon, Anton das Apportieren beizubringen. Mit der Dämmerung war auch die Kälte gekommen, aber das schienen die beiden nicht zu bemerken.
»Platz! Und aus!« quäkte er mit seiner Kinderstimme, aber der Hund umsprang ihn nur bellend. Er gehorchte Simon überhaupt nicht und Paula nur sporadisch. Bei Doris spurte er wie ein Soldat. Hätte nur ich ihm einen Hund gekauft, dachte Paula bekümmert. Doris sagt, man kann Hunde problemlos einen halben Tag alleine lassen. Zu spät. Zu viele Versäumnisse in letzter Zeit.
Doris trat hinter sie auf die Terrasse, den abgekühlten Knochen in der Hand. Sie reichte ihn Simon, und der gab ihn feierlich an Anton weiter. Ein Ritual. Das Spiel war beendet, Anton verzog sich wild knurrend in seine Nageecke. »Ach, was für ein gefährlicher Hund«, lachte Doris und zauste ihm sein weiches beiges Fell.
»Komm, Simon, es ist schon spät. Wir gehen jetzt.« Paula erwartete fast im selben Moment Doris’ Aufforderung, zum Abendessen zu bleiben, aber sie blieb zum Glück aus. Simon begann zu nölen, er wollte hierbleiben.
»Komm, du willst doch heute noch baden«, lockte ihn Paula.
»Das hab’ ich schon. Doris hat mich gebadet.«
»Was denn, einfach so, mitten am Nachmittag?« wunderte sich Paula.
»Wegen der Fingerfarben«, erklärte Doris. Wegen der Fingerfarben trug Simon auch einen von Max’ Pullovern. Wie Doris das nur ertragen konnte …
»Also, ich hole dich kurz vor acht ab«, sagte Doris, und ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Hast du Katharina schon informiert?«
»N… nein. Aber ich werde sie fragen«, antwortete Paula. Sie nahm den quengelnden Simon an der Hand und zerrte ihn etwas unsanft aus Doris’ Garten. Sehnsüchtig winkte er Anton zu, der den Knochen schon bis auf seine harte, trockene Mitte reduziert hatte.
»Du siehst so blaß aus, hast du das ganze Wochenende deinen Text gelernt?« frotzelte Siggi, als Paula und Doris den Probenraum betraten. Paula antwortete nicht. Ein Anfall von Schütteltrost überkam sie, sie konnte beim besten Willen nichts dagegen machen.
»Es ist mal wieder lausig kalt hier«, sagte Barbara. »Wir sollten die Heizung jetzt durchgehend anlassen, zumindest über die Wintermonate.«
»Man könnte sie doch eine Stunde vor den Proben anschalten.«
Die anderen stöhnten. »Oh, Erich!«
Es war dieselbe Truppe wie letzte Woche. Zumindest beinahe. Vitos Abwesenheit wurde durch einen Mann kompensiert, Paula schätzte ihn auf etwa Mitte Dreißig, der ruhig auf einem Stuhl an der Wand saß. Sein Name sei Rainer Zolt. Zolt wie der Fußballer. Er wolle mal reinschnuppern, sagte er, als alle versammelt waren und er sich vorstellte.
»Hast du schon Theatererfahrung?« stürzte sich Barbara auf ihn, wie vorhin Anton auf seinen Knochen. Paula fand es unangebracht, daß sie ihn sofort duzte, aber man war ja eine große, glückliche Familie.
»Ein bißchen.« Sein Dialekt klang anders als der hiesige, ein wenig fränkisch vielleicht. Er wohne noch nicht lange hier, sagte er. Über seinen Beruf machte er keine Angaben, aber das würde Barbara sicher bald herausgefunden haben. Offenbar hatte Siggi ihn schon in die Spielpläne eingeweiht, denn er hielt ein aufgeschlagenes Textbuch in der Hand, in dem einige Stellen rot markiert waren.
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