Mordsonate
wieder zu.
Der Zeitungsständer, die großen Überschriften – Papa, überall ging es nur um Papa … mein Gott, Papa, warum hat er denn das nur … Birgit … ihre allerbeste Freundin! Mama … Mama hatte diese Tabletten genommen … sie war gar nicht richtig munter gewesen, als sie ihr heute früh den Kakao gemacht hatte. Und draußen, auf der Straße, überall hatte Anja sich von den Menschen so komisch angeschautgefühlt. Alle wussten es! Natürlich, sie wussten es alle! Alle! Und auf einmal – ganz so, als säße jemand in ihrem Kopf, der mit ihr machte, was er wollte – hatte sie etwas anderes getan, nicht das, was sie vorgehabt hatte, als sie aus dem Haus gegangen war. Anja Weger, mit ihren Klavierunterlagen im Rucksack auf dem Weg zur Doppelstunde ins Mozarteum, hatte plötzlich kehrt gemacht, war in die BILLA-Filiale in Bahnhofsnähe gegangen und hatte sich Lebensmittel gekauft.
Sie war hinter zwei stark nach Alkohol und Schweiß riechenden Obdachlosen an der Kassa gestanden. »Sprit, Madame«, hatte der eine mit heiserer Stimme gesagt und dann mit einer Handvoll Centmünzen bezahlt. Und sein Freund hinter ihm hatte halblaut vor sich hin gekichert.
Die beiden Männer waren dann langsam mit ihren Weinpackungen in Richtung Bahnhofsvorplatz geschlurft. Anja war mit ihren Einkaufstaschen und dem prall gefüllten Rucksack eine Weile hinter ihnen hergegangen und hatte, ohne sich dafür zu interessieren, zugehört, wie sie sich darüber unterhielten, ob sie nicht doch auch die Straßenzeitung APROPOS verkaufen sollten. »Ist doch ein gutes Geschäft, Fred. Und ob du so nur herumstehst, oder das Blattl hältst, ist auch schon wurscht. Ich probier es heute«, hatte der eine dann gesagt und nach kurzem Nachdenken hinzugefügt: »Oder morgen. Ja, morgen …« Er müsse eh noch einmal genauer über einen Standplatz nachdenken, bevor er sich als Verkäufer melde.
Anja hatte sie überholt, obwohl ihr Einkauf schwer zu tragen war – wie gut, dass Papa nie knausrig war mit dem Taschengeld, denn sie hatte viel bezahlen müssen für die Sachen … Papa … sofort kamen ihr erneut die Tränen, und ihre Gedanken verwirrten sich. Er war doch … siehatte ihn doch so lieb gehabt … und jetzt, mein Gott, jetzt … sie hatte ihn doch immer noch … aber wie sollte sie ihn lieb haben, wenn er das mit Birgit gemacht hatte? Anja musste stehen bleiben, sie schloss die Augen, während ihr die Tränen über die Wangen rannen. Ich wollte doch gar nie nach Vilnius … ich habe mich doch mit Birgit gefreut … warum wollte Papa nur so sehr … Mama war doch auch mit dem zweiten Platz so zufrieden.
Anja kannte die Busverbindungen nach Seekirchen. Voriges Jahr war sie mit Birgit schon einmal ganz allein hinausgefahren zum Wochenendhaus, als Mama noch bei Freundinnen in Mattsee gewesen und dann von dort direkt zum Haus gekommen war. Wie waren die Freundinnen stolz darauf gewesen, das ganz allein geschafft zu haben! Und wie hatte Mama sie dafür gelobt: »Ihr seid halt meine tüchtigen Mädels!« Sie hatte gelacht, da hatte Mama noch lachen können … mein Gott, warum … warum nur hatte das alles passieren müssen? Immer wieder hatte sie im Bus vergeblich versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Zum Glück hatte niemand etwas bemerkt, da sie allein ganz hinten gesessen war. Die alten Frauen, die mit ihren Einkaufstaschen zu- und meist bald wieder ausgestiegen waren, hatten sich immer vorne hingesetzt.
Vielleicht, hatte sie sich während der Fahrt einmal überlegt, wollte sie nur nicht zum Doktor gehen … Mama, die den ganzen Tag geweint hatte und dann bei dem Psychiater gewesen und später von diesen Tabletten so schläfrig geworden war, hatte gesagt, dass sie heute auch für Anja einen Termin ausgemacht habe … das würde ihr gut tun. »Das hilft, Anja, wirst sehen. Es ist jetzt alles viel zu viel für uns. Und wir müssen so stark sein, damit wir das … Da ist es gut, wenn man Hilfe bekommt.« Und schon hatte sie sie wieder an ihre Brust gedrückt, und gleich darauf hatten beide geweint.
Anja war klar, dass sie jetzt mit ihren schweren Taschen – sie bereute schon, eine Flasche Himbeersirup gekauft zu haben – und dem Rucksack bestimmt zwanzig Minuten brauchen würde, von der Bushaltestelle bis zum Haus. Und wie sie so vor sich hin trottete und sich einmal in der Gegend umsah, bemerkte sie den Mann mit den langen Haaren, die er zu einem Schweif zusammengefasst hatte. Der Unbekannte blieb stehen, als sie stehen blieb. Was
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