Mordspech (German Edition)
raufzulassen.
9 WENIG SPÄTER sitzen wir am Küchentisch. Die Kinder ließen sich anstandslos ins Bett bringen, und Siggi hat eine Flasche Scotch mitgebracht. Einen zwölf Jahre alten Single Malt. Aberlour. Nicht schlecht. Das muss man dem Angeber lassen, was Genussmittel angeht, hat er einen exquisiten Geschmack. Überhaupt legt Siggi Wert auf teure Dinge, was man nicht nur an seinem neuen Wagen sieht. Er trägt ein lässiges, sicher maßgefertigtes Sommersakko, dazu Designerjeans und ein offenes italienisches Hemd. Seine Haare werden allmählich grau, was ihm gut steht. Die Haut ist angenehm gebräunt, die Brauen gezupft, die Nägel sorgsam manikürt. Vom Aufwand der Körperpflege her könnte Siggi sicher auch als Schwuler durchgehen. Aber seine Leidenschaft für Monika spricht dagegen. Sie sind seit über achtzehn Jahren geschieden, doch er liebt sie immer noch.
»Mehr denn je«, wie er beteuert, als er uns Whisky einschenkt und einen Spritzer Wasser dazugibt. »Berichtet sie noch von der Oderfront?«
»Ist heute zurückgekommen«, antworte ich. »Wegen Melanie. Sie hatte einen Unfall.« Ich sollte jetzt eher bei den beiden sein, als hier mit Siggi zu sitzen.
»Ein Unfall? Schlimm?« Natürlich bekommt er sofort eine besorgte Miene. Melanie ist zwar nicht seine leibliche Tochter – der Vater bin ja ich –, aber er hat die ersten Jahre während seiner Ehe mit Monika durchaus für das Kind gesorgt. Melanie selbst spricht immer von ihren »beiden unmöglichen Vätern«, und Siggi fühlt sich durchaus noch für sie verantwortlich.
»Sie kommt morgen wieder raus.«
»Raus?« Siggi wird unruhig. »Wo raus? Doch nicht etwa aus einer Klinik?«
»Sie war da nur zur Beobachtung. Und morgen ist sie wieder draußen.«
»Na, Mensch!« Siggi ist aufgesprungen und sieht theatralisch aus dem Fenster. »Und ich erfahre das so nebenbei?«
»Ich hätte dich jetzt angerufen. Vorher war keine Zeit. Wir waren ja auch in Sorge.«
»Natürlich.« Er wendet sich wieder mir zu, »natürlich«, und setzt sich zurück an den Küchentisch. »Wobei ist sie denn verunglückt?«
»Zusammenstoß mit einem Radfahrer.« Mehr muss er nicht wissen. »Aber ihr ist ja nichts Ernstes passiert.« Noch nicht, wenigstens. »Monika bleibt die Nacht über bei ihr.« Nervös sehe ich auf die Uhr. »Du wolltest mit mir reden. Worüber?«
»Trinken wir erst mal was.« Siggi hebt sein Glas. »Slainté!«
»Slainté!« Wir stoßen an. Der Aberlour ist ein kräftiger Highlander mit Karamell- und Pfirsich-Aromen und einem leichten Hauch von Bitterorangen. Sehr lecker. Das fühlt sich gut an nach so einem Tag.
»Ich habe etwas getan«, beginnt Siggi mit versonnenem Blick auf sein Whiskyglas, »was ich nie für möglich gehalten hätte. Also, meine Person betreffend, verstehst du?«
Nee. Gar nicht.
»Du weißt, Dieter, ich bin immer ein Mann von klaren Positionen gewesen, immer geradeheraus und von anständiger Moral …«
Ich muss lachen. Siggi, der Ex-Stasi-Offizier: immer geradeheraus und anständig – ein Superwitz!
»Von meinem Standpunkt aus war ich das wirklich. Du musst das mal aus meiner Sicht sehen. Und heute bin ich einen Schritt gegangen, der für mich bislang absolut unvorstellbar war …«
»Du hast mit dem Kommunismus gebrochen«, rate ich drauflos, »und bist in die CDU eingetreten?«
»Quatsch!« Siggi schüttelt den Kopf. »So weit bin ich noch nicht heruntergekommen. Ideale sind wichtig! – Doch was nützen sie, wenn dabei der Anstand den Bach runtergeht.« Er springt auf und wandert in der Küche umher. »Stell dir vor, es gibt Genossen, die würden alles für ihre Ideale tun. Die sind, mal bildlich gesprochen, einen Pakt mit dem Teufel eingegangen. Schon lange! Faust und Mephisto – der alte Klassiker! Aber das ist ein Weg, den«, er überlegt einen Moment und starrt mich groß an, »den ich unmöglich mittragen kann. Der nichts, aber auch gar nichts mit der Verteidigung unserer kommunistischen Idee zu tun hat, Dieter!« Eindringlich klopft er mit den Fingern auf den Tisch. »Da passieren Dinge, die sind, also, die sind absolut daneben, das ist, das ist …« Er sinkt kopfschüttelnd auf seinen Stuhl und sieht plötzlich resigniert aus. »Das ist alles nicht mehr tragbar für mich. Ich komme nicht mehr klar. Das ist nicht mehr die Welt, in der ich aufgewachsen bin …«
Jetzt geht das wieder los, denke ich. Monika hat mir davon erzählt, wie sehr Siggi an unserer Gesellschaft leidet, an unserer
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