Mordsschock (German Edition)
nach meiner Geburt absetzte und nach 13 Jahren erst wieder bei uns auftauchte. Mutter fiel abermals in seine Arme: Vic wurde gezeugt. Ich hatte meinen Vater Fred Fabian nie vermisst. Mutters Liebe reichte für zwei. Während Vic im Embryonalstadium durch Mutters Bauch schwamm, starb er an Herzversagen. Man munkelte was von Drogen- und Alkoholexzessen.
Mutters ansteckendes Lachen, mit dem sie fremde Leute auf Anhieb bezauberte, ertönte seltener. Vor zwei Jahren, als Vic neun Jahre alt war, starb sie an Eierstockkrebs. Sie hinterließ uns ihren Mädchennamen Campbell – Mutters einziger Besitz, den die Vollwaise aus London als Aupairmädchen mit nach Hamburg gebracht hatte, wo sie in die konservative Burmeister-Sippe einheiratete.
„Deine kleine Schwester liest Pornos!“ Sophies Stimme zitterte vor Wut. Wenn sie Vic als ‚meine kleine Schwester‘ bezeichnete, war Sophie so böse, dass ihre Halsschlagader deutlich hervortrat und sich zum Zerreißen anspannte. Ich stellte mir vor, wie sich auf ihren Wangen hektische rote Flecke bildeten, während sie ins Telefon schnaubte.
Jetzt wurde ihr Tonfall weinerlich. „Man tut alles für das Kind, liest ihr jeden Wunsch von den Lippen ab, und nun so was ...“
„Na ja, es ist kein Verbrechen, in Pornos zu blättern. Wenn nicht so viele Erwachsene die Dinger konsumieren würden, könnte dieser Industriezweig nicht derart boomen.“ Ich wollte Sophie ein bisschen auf die Palme schicken. Ihre Wut war mir lieber als stundenlange Jammertiraden.
Es funktionierte. Sie explodierte. Ihre Stimme überschlug sich: „Nina, ich bitte dich! Das Mädchen ist elf Jahre alt! In dem Alter habe ich noch mit Puppen gespielt. Wie kannst du irgendwelche versauten, kopfkranken Spanner, die diesen Dreck kaufen, zitieren! Das ist widerlicher Abschaum!“ Sophie spuckte aus, als hätte der Ekel sie gepackt.
Zeit, um sie wieder etwas zu beruhigen. „Woher hat Vic überhaupt Pornos? An Elfjährige dürfen solche Hefte nicht verkauft werden.“
„Ach, was weiß ich! Das kleine Aas hat mal wieder geklaut. Sie schreckt ja vor nichts zurück. Ich habe zu Thilo gesagt, das müssen die Gene eures Vaters sein. Von Mutter hat sie das nicht.“
„Hast du sie mit dem Heft erwischt?“
„Ich habe es in ihrem Schrank gefunden. Der Schund lag unter einem Haufen Schmutzwäsche vergraben. Man muss ja ständig hinter ihr herräumen!“ Klagelied à la Sophie. „Neulich habe ich mich über ihre Ausdrucksweise gewundert. Sie packte wie jeden Morgen ihre Schulbrote ein und alberte herum: ‚Gib mal her, die Sandwichmucke!‘ Ich dachte mir nichts dabei, weil ich diesen Begriff nicht kannte. Das hat sie wohl geärgert. Jedenfalls wurde sie deutlicher: ‚Weißt du nicht, was das ist, Sophie? Das ist, wenn zwei Männer und eine Frau ... Und die Frau klemmt in der Mitte, und die Männer machen ...‘ Ich scheuchte sie los zur Schule. Natürlich dachte ich, sie hätte diesen Ausdruck irgendwo aufgeschnappt. Dafür besitzt sie ja sonst auch ein echtes Talent, um sich die falschen Sachen anzunehmen.“
„Hast du sie gefragt, woher sie das Heft hat?“
„Natürlich, aber sie schweigt verstockt und will es mir partout nicht verraten. Das ist der beste Beweis, dass sie mal wieder geklaut hat. Eine ganze Woche Hausarrest!“
Ich versprach Sophie, mit Vic zu reden und ihr zu erklären, dass Pornos nicht die geeignete Lektüre für sie wären. Vor allem ging es mir darum, meiner kleinen Schwester das Klauen abzugewöhnen, was ich schlimmer fand, als wenn sie ihre Nase in verbotene Sachen steckte.
Nachmittags stellte ich Vic am Telefon zur Rede: „Woher hast du das Pornoheft?“
„Och, jetzt fängst du auch damit an!“, nölte sie.
„Vic, du sollst nicht stehlen!“
„Ich hab’ nicht geklaut!“
„Lüge mich nicht an! Also, woher stammt es?“
„Hab’s nur ausgeliehen. Wollte es zurückgeben, hab’s aber vergessen.“
So stark faszinierten die Pornos meine kleine Schwester bestimmt nicht, wenn sie das Heft im Schrank vergaß. Solche Dinge erledigten sich meistens von selbst. „Du weißt genau, dass man sich nicht aus irgendwelchen Läden Sachen heimlich ausleiht und sie, wenn man keine Lust mehr darauf hat, zurückbringt. Das ist kriminell, Vic, und geht ganz schnell nach hinten los.“
„Das beschissene Teil ist aus keinem Laden.“
Mir wurde mulmig zumute. Meine kleine Schwester hatte nun mal einen Hang dazu, sich mit irgendwelchen Typen aus dem, was Sophie als ‚Schmuddelmilieu‘
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