Mordswald - Hamburgkrimi
sagte Lina nach einer Weile sanft,
"können Sie uns noch etwas mehr dazu sagen, was früher passiert ist?"
Die Frau nickte, schwieg jedoch. Eine Spur energischer fuhr Lina fort:
"Die Clique von Julia Munz und Philip Birkner hat also andere Schüler
schikaniert. Darunter auch Daniel Vogler. Wissen Sie, was genau sie mit ihm
gemacht haben?"
Sonja Birkner schüttelte den Kopf. "Mitbekommen habe ich
nur das Übliche", sagte sie leise. "Blöde Sprüche, vielleicht mal
eine kleine Rempelei auf dem Schulhof, so was." Sie sah Lina an.
"Aber irgendwann muss was richtig Schlimmes passiert sein. Daniel kam ein
paar Tage nicht zur Schule, und danach war er völlig verschlossen. Wissen Sie,
er war ein ziemlicher Besserwisser, hat ständig andere verbessert, sogar die
Lehrer, und das hat sich natürlich auf der ganzen Schule rumgesprochen. Aber
plötzlich saß er nur noch stumm da und sagte nichts."
"Und wann war das?"
Sonja Birkner wollte die Stirn runzeln, aber mit der riesigen
Prellung am Auge ließ sie es lieber bleiben. "Im Sommer, bevor wir in die
Elfte und Daniel gleich in die Zwölfte kamen." Sie nickte bekräftigend.
"Danach habe ich überhaupt nichts mehr von Daniel mitbekommen, er war dann
ja einen Jahrgang über mir."
"Und die Clique von Julia Munz und Ihrem Schwager?"
Sonja Birkner sah Lina an. "Die hat sich irgendwie
aufgelöst. Ich meine, Julia war immer noch mit Philip zusammen, und sie waren
immer noch arrogant und hochnäsig, aber soweit ich es mitbekam, haben sie keine
anderen Schüler mehr schikaniert. Und um Daniel haben sie regelrecht einen
Bogen gemacht, das ist nicht nur mir aufgefallen. Aber inzwischen waren wir
alle ja auch schon älter, mindestens sechzehn, da legt sich so was vielleicht
von allein." Sie zuckte die Achseln und verzog vor Schmerz das Gesicht. "Ich
weiß es nicht, aber ich habe nie wieder von irgendwelchen richtig üblen
Geschichten gehört."
Lina sah die Frau an. Wenn ihr Mann sie wegen einer Sache,
die mehr als fünfzehn Jahre zurücklag, dermaßen zugerichtet hatte, musste es
damals schon ziemlich zur Sache gegangen sein. "Und Ihr Mann?",
fragte sie. "War er an dieser schlimmen Sache damals beteiligt?"
Sonja Birkner drehte den Kopf zum Fenster. "Ich weiß es
nicht", sagte sie leise. "Wir haben nie darüber gesprochen, nicht
über diese Sache speziell jedenfalls." Sie sah Lina wieder an.
"Wissen Sie, wir sind erst nach Julias Tod ein Paar geworden, ein paar
Monate vor dem Abitur, und da wollte natürlich niemand schlecht von ihr reden.
Ein paar Jahre später, als wir in so einer Weißt-du-noch-damals-Stimmung waren,
habe ich das Thema mal angeschnitten; dass Julia und Philip ja früher ganz
schön gemein gewesen waren … Lukas ist total ausgerastet." Sie verstummte.
"Ich glaube, damals hat er mich zum ersten Mal geschlagen. Nur eine
Ohrfeige, es hat nicht einmal wehgetan, und er hat sich auch sofort
entschuldigt." Sie schwieg erneut. "Aber so ging es weiter. Ich
durfte nichts gegen Philip sagen. Wenn ich mich daran gehalten habe, ging alles
gut. Aber wehe, ich wagte es, ihn zu kritisieren … Irgendwann hatte ich es
natürlich begriffen und habe den Mund gehalten. Philip konnte sich alles
erlauben, Lukas hätte nie und nimmer zugelassen, dass jemand ihn von dem Sockel
stößt, auf den er ihn gestellt hatte."
Lina und Max sahen sich an. "Was hat Ihr Schwager sich
denn erlaubt?", fragte Max. Frau Birkner sah ihn überrascht an, als hätte
sie seine Anwesenheit bislang gar nicht richtig wahrgenommen.
"Seine Protzerei, zum Beispiel. Bei jeder Gelegenheit
hat er Lukas unter die Nase gerieben, wie gut er es mit seiner Katja getroffen hatte
und was sie sich schon wieder angeschafft hatten, das teure Sofa von
irgendeinem Designer, die neue Musikanlage, die neue Küche, den dicken
BMW."
Max runzelte die Stirn. "Ich dachte, Philip wäre das
ganze Geld nicht so wichtig gewesen. Hatte nicht in erster Linie seine
Lebensgefährtin auf den Luxus und die teure Wohnung bestanden?"
Sonja Birkner lachte spöttisch, und dieses Mal gelang es ihr
recht gut. "Wenn Philip sagte: 'Ach weißt du, ich könnte ja darauf
verzichten, mir bedeutet der ganze Luxus nichts', dann hat Lukas ihm jedes Wort
abgekauft. Aber den arroganten Unterton, das abfällige Naserümpfen, wenn er bei
uns oder seinen Eltern zu Besuch war … das hat er nie gesehen, wollte er nie
sehen. Immer wieder hat Lukas seinen Bruder verteidigt, hat Ausreden für ihn
parat gehabt, egal, ob Philip ihn mal wieder gedemütigt hatte oder mal
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