Mordswald - Hamburgkrimi
sie nur wenige Zentimeter größer als der
sitzende Max.
Birkner rieb sich mit der Hand über die Stirn und war
erstaunt, dass sie feucht wurde. Er betrachtete die Handfläche, dann wischte er
sie seitlich an der Hose ab. Lina verzog das Gesicht.
"Ich hatte Angst, dass sie Philip Ihnen gegenüber
schlechtmacht", sagte er schließlich. Er schluckte. "Sonja mochte
Philip nicht und hatte ständig etwas an ihm auszusetzen. Gestern Abend hat sie
wieder davon angefangen, von der Sache damals, und dass Philip ja manchmal …
ganz schön fies sein konnte, genau, 'fies' hat sie ihn genannt. Philip! Ich hab
sie gefragt, ob sie Ihnen", er nickte Lina zu, "das auch schon Montag
erzählt hat. Sie stritt es ab, aber ich glaubte es nicht, und dann … ich weiß
nicht, dann bin ich einfach ausgerastet." Er hob den Kopf und sah Lina
mitleidheischend an. "Fies! Philip! Philip war so …" Seine Augen
füllten sich mit Tränen. "Verstehen Sie, er hat mir so viel bedeutet, er
war immer für mich da. Sonja hat das nie begriffen." Er ließ den Kopf
sinken und schluchzte leise.
"Klar, und deswegen mussten Sie sie grün und blau
schlagen." Lina sah auf den Mann vor sich herunter und konnte ihre Wut nur
mühsam im Zaum halten. "Weil sie eine andere Meinung hatte als Sie. Weil
sie Ihren Bruder nicht auf dem Sockel ließ, auf den Sie ihn gestellt
haben."
"Sie verstehen das nicht", sagte Lukas Birkner,
"ich habe Philip auf keinen Sockel gestellt, aber Sonja war einfach … sie
hat ihn nicht so gesehen, wie er wirklich war."
"Aber Sie haben Ihren Bruder so gesehen, wie er wirklich
war?", fragte Max ruhig.
Birkner nickte. Nicht der Hauch eines Zweifels spiegelte sich
in seinen Zügen. Max seufzte leise. Es war nicht seine Aufgabe, diesem Mann
seine Illusion zu nehmen, selbst wenn er es gekonnt hätte, obwohl diese
bedingungslose Anbetung ihn über alle Maßen faszinierte. Er beugte sich ein
wenig vor. "Hatte Ihr Bruder denn überhaupt keine Fehler? Stimmt es denn
nicht, dass er sich manchmal über Sie lustig gemacht hat, Sie vor den Kopf
gestoßen hat?"
Birkner sah ihn mit großen Augen an, als sei allein diese
Frage völlig absurd. "Hat meine Frau Ihnen das erzählt? Typisch!" Er
schüttelte den Kopf. "Natürlich brachte Philip ab und zu mal ein paar
Sprüche, aber herrje, er war mein Bruder! Wenn's drauf ankam, konnte ich mich
voll auf ihn verlassen, hundertprozentig", sagte er mit dem Brustton der
Überzeugung.
"Ist der einfach nur so verbohrt, oder hat er etwas zu
verbergen?", überlegte Lina kurz darauf laut, während sie auf den
Fahrstuhl zusteuerte. "Ich meine, allein der gesunde Menschenverstand sagt
einem doch schon, dass jeder Mensch ab und zu Fehler macht. Dass Birkner das so
kategorisch leugnet, macht mich stutzig."
"Auf jeden Fall scheint er eine recht merkwürdige Beziehung
zu seinem Bruder gehabt zu haben", überlegte Max. "Philip ist
ziemlich grob mit ihm umgesprungen und konnte sich alles Mögliche herausnehmen,
trotzdem vergöttert Lukas den Älteren."
Lina drückte auf den Knopf, doch wie immer waren sämtliche
Aufzüge gerade auf dem Weg nach oben. "Hätte er damit nicht ein Motiv für
einen Mord?", fragte sie. "Ich meine, wenn er über Jahre die
Sticheleien und Demütigungen seines Bruders ertragen musste …"
"Du meinst, steter Tropfen bringt das Fass zum
Überlaufen?", grinste Max. Eine Fahrstuhltür öffnete sich mit einem leisen
Pling, sie traten ein und drückten auf den Knopf mit der Fünf. "Hat er
eigentlich ein Alibi?"
Lina runzelte die Stirn. "Ich glaube, der war im Urlaub.
Als ich am Montag das erste Mal mit den beiden geredet habe, hat seine Frau
gerade die Sachen aufgearbeitet, die im Urlaub liegengeblieben sind."
"Das müssen wir auf jeden Fall überprüfen", stellte
Max fest. "Und wir müssen noch weitere Mitglieder der Clique von damals
aufspüren. Unbedingt."
"Glaubst du, die Ereignisse von damals haben tatsächlich
etwas mit Philip Birkners Tod zu tun?" Lina lehnte sich an die Aufzugwand.
"Aber was könnte damals vorgefallen sein? Wenn stimmt, was sowohl Sonja
Birkner als auch ihr Mann erzählen, dass zwei Jahre, bevor Daniel und Philip
Abitur gemacht haben, irgendetwas vorgefallen ist, das alles verändert hat
– was könnte das gewesen sein?"
"Auf jeden Fall hat es Daniel Vogler einen gewaltigen
Dämpfer verpasst, so dass er sich danach noch mehr zurückgezogen hat." Die
Tür öffnete sich erneut, und sie traten hinaus auf den Gang.
"Aber gleichzeitig hat es die Clique davon
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