Mordswald - Hamburgkrimi
gesenkt,
doch Lina wusste, dass er versuchte, unauffällig die Lage zu peilen und nach
Fluchtmöglichkeiten abzuchecken. Klar, das gehörte dazu. Sie tat, als würde sie
nichts merken und wartete ab. Und siehe da, sie hatte bereits die Fernbedienung
gedrückt, der Wagen zehn Meter vor ihr begrüßte sie blinkend, als Marcel sich
losriss und wegzurennen versuchte. Mit einem Satz hatte Lina ihn eingeholt und
hielt ihn fest.
"Schön hiergeblieben! Wir fahren jetzt … na warte!"
Ein heftiger Tritt gegen das Schienbein, der nur deshalb
glimpflich blieb, weil sie im letzten Moment ausgewichen war. Eine halbe Drehung,
ein Sidekick. Er wollte ihr einen Haken versetzen, aber sie packte seinen Arm
und schon lag der Junge auf der Motorhaube des Autos.
"Schlecht gezielt! Und was anderes als Kicks gegen's
Schienbein fällt dir wohl auch nicht ein?" Seufzend ließ sie ihn los.
"Komm schon." Mürrisch richtete der Junge sich auf. "Hältst du
uns echt für so dämlich? Weißt du nicht, dass die meisten Bullen irgendeinen
Kampfsport machen?"
"Lina Svenson im unermüdlichen Einsatz gegen das
Verbrechen!" Die Stimme hinter ihr ließ sie herumfahren. Max stand in der
Nähe an einen Wagen gelehnt und hatte das kleine Intermezzo offensichtlich
beobachtet. Sie streckte ihm die Zunge raus, dann drehte sie sich wieder zu
Marcel um. Schweigend wischte er sich die Hände ab und trottete auf die
Beifahrertür zu, die Lina ihm aufhielt.
"Und was hast du in der Zwischenzeit getrieben?",
fragte sie Max, der inzwischen zu ihr herübergekommen war. Er berichtete kurz
von seinem Gespräch mit Niels Hinrichsen im Niendorfer Gehege.
"Und der Kleine hier?", fragte er leise und deutete
auf den Jungen, der sich neugierig im Wagen umsah. "Ist das einer von den
gefährlichen U-Bahn-Schlägern?"
Lina nickte. "Im Moment ist er nur eine halbe Portion,
aber das kann sich schnell ändern. Ich glaube zwar nicht, dass er was mit
unserem Birkner zu tun hat, aber wenn wir nicht aufpassen, werden wir ihn in
ein paar Jahren wieder bei uns oben sitzen haben." Oben, damit meinte sie
die Mordkommission. Sie sah Max nachdenklich an, als versuchte sie, zu einer
Entscheidung zu kommen. "Hast du gerade Zeit?"
"Im Prinzip schon. Ich wollte den Bericht schreiben,
aber du weißt ja …" Alex war der Einzige von ihnen, der ganz versessen
darauf war, Berichte und Protokolle zu schreiben.
"Dann steig ein. Ist eh ganz gut, wenn einer den Bösewicht
im Auge behält. Aber halt den Mund." Als Max sie neugierig ansah, errötete
sie, was für sie völlig untypisch war, und fügte hinzu: "Ich will dir
etwas zeigen."
Max kletterte auf die Rückbank auf den Sitz hinter Lina, so
dass Marcel ihn und er den Jungen sehen konnte. Dieser schien sich unbehaglich
zu fühlen, was Lina ihm nicht verdenken konnte.
Nachdem sie eine Weile gefahren waren, fragte sie den Jungen:
"Wo hast'n kicken gelernt?"
Mit finsterem Gesicht hob er die Schultern. "Von 'nem
Kumpel."
"Auf der Straße?"
Der Junge nickte.
Lina blinkte und bog rechts ab. Eine Weile fuhren sie
schweigend, hin und wieder warf sie Marcel einen raschen Seitenblick zu. Vom
Profil her ähnelte er seiner Mutter, und selbst diesen müden Zug um den
Mundwinkel hatte er schon. Kurz vor einer großen Kreuzung, an der sie rechts
abbiegen müsste, um ihn nach Hause zu kommen, wurde sie langsamer und sagte:
"Willst du es lernen? Ich meine, richtig Kickboxen?"
Sie sah, wie er mit sich kämpfte. Schließlich schnaubte er
verächtlich. "Im Polizeisportverein oder was?"
"Nein." Sie fuhr noch langsamer. "Also, was
ist?" Sie sah ihn an und entdeckte etwas Vertrautes in seinem Blick. Sich
selbst vielleicht, die sie einmal war oder hätte sein können.
"Also gut", gab er schließlich großzügig nach.
"Ich kann es mir ja mal anschauen."
Lina nickte und bog an der großen Kreuzung links ab. Im
Rückspiegel sah sie Max' fragend hochgezogene Braue.
Sie hatte gewusst, dass sie ihn hier finden würde. Lutz lebte
praktisch fürs Kickboxen und verbrachte jede freie Minute im Dojo in
Nord-Altona. Entweder trainierte er selbst an den paar Geräten, die sie da
hatten, oder mit den Kumpels. Oder er unterrichtete: Kids und Jugendliche aus
dem Viertel. Kids, die Erfahrung im Prügeln hatten, aber nicht unbedingt im
fairen Kämpfen. Das versuchte Lutz ihnen beizubringen, zusammen mit der Kunst,
sich zu verteidigen, ohne den anderen gleich totzuschlagen, aber natürlich
erzählte er ihnen das nicht, jedenfalls nicht so direkt, weil sie dann
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