Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
jeden, der nicht schnell genug floh, langsam und gemächlich saugte die funkelnde Klinge einen Mann nach dem anderen in sich hinein, ins Nichts, keine Wunden schlagend, niemanden verschonend.
»Liyo!«
rief Vanye und galoppierte hinter ihr her, wobei er einen schreienden Sumpfbewohner ins Wasser drängte.
»Liyo?«
er ritt zum Rand des Landes, und dort mochte seine Stimme endlich an ihr Ohr dringen. Sie zog das Pferd herum, und er sah den Bogen des Schwertes, das plötzliche Nachlassen des Lichts, als die Spitze in seine Richtung zuckte. Er zügelte seinen Wallach mitten im Lauf, und das Tier rutschte auf den nassen Steinen entlang, erholte sich aber sofort wieder. Zitternd tänzelte das Pferd unter ihm. Morgaines erregtes Gesicht starrte ihn im Schreckensfeuer
Wechselbalgs
an.
»Gib dich damit zufrieden!« drängte er sie mit dem Rest seiner Stimme. »Schluß! Schluß!«
»Reite zurück!«
»Nein!« schrie er sie an. Doch sie wollte nicht auf ihn hören: sie drehte Siptahs Kopf zu den Gestalten herum, die sich am Hügel sammelten, und ließ ihn auf dem weichen Boden antraben. Frauen und Kinder schrien auf und ergriffen die Flucht. Männer hielten verzweifelt ihre Stellung, doch sie drang nicht weiter vor, sondern ritt nur im Bogen hin und her, immer hin und her.
»Liyo!«
schrie Vanye sie an, und als sie nicht kommen wollte, ritt er vorsichtig weiter vor und zügelte sein Pferd einige Schritt hinter ihr, wo er vor ihr wie auch vor dem Feind sicher war.
Sie ließ das Pferd stehen und starrte auf den leeren Raum, den sie zwischen dem Dammweg und den Angreifern geschaffen hatte. Nach all der Wildheit und Verwirrung lastete nun ein schreckliches Schweigen auf der Szene. Und sie hielt das Schwert blank in der Hand, wartend, während die Zeit verstrich und die Stille sich fortsetzte.
Ein ferner Ruf brach das Schweigen, der Rufer blieb in der Dunkelheit verborgen. Verwünschungen wurde gegen sie ausgestoßen, die diese Menschen getäuscht hatte; und noch schlimmere Dinge wurden gerufen. Sie bewegte sich nicht, schien sich auch nicht provozieren zu lassen, während Vanye wegen mancher Worte vor Zorn erbebte und sich wünschte, er könnte an den Mann heran. Beinahe hätte er von sich aus geantwortet; doch in Morgaines Stille und abwartender Haltung lag etwas, gegen das jede Antwort, ob nun zum Angriff oder zur Verteidigung, hohl klingen mußte. Er hatte
Wechselbalg
in der Hand gehalten: er kannte den Schmerz, der sich in dem Arm ausbreitete, der die Waffe lange geführt hatte, er wußte von den Kräften, die der eigenen Seele abgefordert wurden. Sie rührte sich nicht, und die Stimme verstummte.
Endlich faßte sich Vanye ein Herz und ließ den Wallach schrittweise vorrücken.
»Liyo«,
sagte er, damit sie auch wußte, daß er es war. Sie hatte nichts mehr dagegen, daß er näher kam, ebensowenig wandte sie den Kopf von der Dunkelheit, die sie bewachte.
»Es ist genug«, drängte er leise.
»Liyo —
steck das Schwert fort.«
Sie antwortete nicht, rührte sich eine ganze Weile nicht. Dann hob sie
Wechselbalg, so
daß die Dunkelheit an seiner Spitze auf das Gewirr der Zelte und Unterkünfte wies und auf den großen Baum, an dem sich über einem sterbenden Feuer Leichen drehten.
Schließlich senkte sie den Arm, als wäre ihr das Gewicht des Schwertes plötzlich zuviel. »Nimm!« sagte sie heiser.
Er lenkte sein Pferd nahe heran, streckte beide Hände aus, löste sanft ihre starren Finger vom Drachengriff und nahm ihr das Schwert ab. Der böse Einfluß der Klinge strömte ihm sofort durch die Knochen und ins Gehirn, daß die Umwelt verschwamm und seine Sinne ins Taumeln gerieten.
Die Scheide bot sie ihm nicht, das einzige Mittel, das das Feuer der Waffe eindämmen und sie harmlos machen konnte.
Morgaine sagte kein Wort.
»Reite zurück«, bat Vanye. »Ich bewache sie jetzt.«
Aber sie antwortete nicht und machte auch keine Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen. Starr und stumm saß sie neben ihm — sicher nahm sie an, daß er weniger Willenskraft aufbringen würde als sie, wenn es darum ging, das Schwert tatsächlich zu benutzen; Menschenleben und Nationen lasteten auf ihrem Gewissen. Seine Verbrechen entsprachen einem eher menschlichen Maßstab.
So saßen sie Seite an Seite auf ihren Pferden, bis er merkte, daß das Schwert seinen Arm schmerzen ließ, bis dieser Zugschmerz kaum noch zu ertragen war. Nun zählte er nur noch die eigenen Atemzüge und verfolgte die langsame Wanderung von Li über den Himmel; und
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