Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
gegen den Sims lehnte und nach unten zu schauen vermochte, fiel sein Blick nur auf einen Mauervorsprung. Links schob sich die Strebe des Turms vor und versperrte ihm den Blick, rechts erstreckte sich eine weitere Mauer, ebenfalls beinahe nahe genug zum Anfassen.
Er ließ die Fensterlade offen, obwohl der Blick ihm nichts offenbarte und gelegentlich ein kühler Luftzug hereinstrich. An den Himmel gewöhnt, fand er die Enge der Mauern unerträglich. Er sah zu, wie das Licht des Tages stärker wurde, bis die Sonne senkrecht in den Schacht hineinschien, und verfolgte später, wie die Helligkeit wieder schwächer wurde, während sich die Sonne am Himmel herabsenkte. Er lauschte dem Weinen von Kindern, dem Blöken von Vieh, dem Kreischen von Rädern, als stünden die Tore Ohtij-ins offen, als hätte eine Art normaler Verkehr begonnen. Männer brüllten im Dialekt gesprochene Worte, die er nicht erkannte, doch er war froh über den Klang der Stimmen, die ihm rauhgewöhnlich und menschlich vorkamen.
Ein Schatten senkte sich herab, schneller als der Abend; Donner grollte. Regentropfen befleckten die winzige Fläche des Vorsprungs, die durch das Fenster sichtbar war — es hörte auf zu regnen, begann erneut und verstärkte sich zu einem energischen Schauer.
Nun brannte das letzte Stück Holz auf, obwohl er die letzten kleinen Scheite und Stücke vorsichtig gehortet hatte. Es wurde kalt im Zimmer. Draußen flüsterte der Regen gleichmäßig durch den Schacht.
Im Korridor hallte Metall, die Schritte Bewaffneter. Vanye hörte so etwas nicht zum erstenmal; von Zeit zu Zeit hatte er Schritte im Turm gehört, weit entfernt und ohne Bedeutung. Vanye begann sich erst zu rühren, als er erkannte, daß die Laute näher kamen — in der fast totalen Dunkelheit erhob er sich und hoffte auf so unwichtige und doch kostbare Dinge wie Feuerholz und Speisen und Getränke, fürchtete aber, daß die Besucher etwas anderes wollten.
Laß es Roh sein,
dachte er und zitterte vor Aufregung.
Der Riegel wurde zurückgeschoben. Er blinzelte in den Schein der Fackeln, der die aufgehende Tür -füllte und die Wächter und Männer zu Schatten machte, ehe sie den Raum betreten hatten: Licht schimmerte auf Brokat, funkelte auf bronzenen Helmen und hellem Haar.
Er erkannte den älteren Mann: Bydarra, und bei ihm Hetharu. Diese Zusammenstellung paßte kaum zur Erinnerung an die letzte Nacht — an eine verstohlene Zusammenkunft in diesem Gefängnis, an junge Herren, die zusammensaßen und Geheimnisse besprachen.
Vanye stand starr am Kamin, während die Wächter ihre Fackeln in den Halterungen gegen die abgebrannten Stummel austauschten. Außerhalb dieser sich überschneidenden Lichtkreise war es vergleichsweise dunkel: das regnerische Tageslicht ein schwacher Schimmer in der Nische, weniger hell als die Fackeln. Der Charakter des Raums schien sich verändert zu haben, schien plötzlich fremd zu sein, nachdem die
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hier waren, entgegen allen seinen Absichten. Vanye betrachtete die Wächter, die in der Tür warteten: das Licht zeichnete Dämonengesichter und ungewöhnliche Schuppenmuster nach. Er betrachtete sie mit zunehmendem Entsetzen, mit dem Bewußtwerden von Dingen außerhalb seines Verhältnisses zu Roh.
»Nhi Vanye«, grüßte Bydarra ihn nicht unfreundlich.
»Lord Bydarra«, antwortete er und neigte in Erwiderung der Höflichkeit leicht den Kopf, wenn auch die Wächter ringsum keinen Zweifel daran ließen, daß man ihm nicht mit Höflichkeit begegnen wollte, weil auch Hetharus dünnes, wölfisches Gesicht neben seinem Vater keine guten Absichten verhieß. Vanye hob den Kopf, begegnete dem Blick der bleichen Augen des alten Lords. »Ich hatte angenommen, du würdest mich zu dir holen lassen.«
Bydarra lächelte angespannt und antwortete nicht auf die herausfordernde Bemerkung. Plötzlich hatte auch diese Begegnung etwas von einer Geheimversammlung; durchaus möglich, daß der Lord von Ohtij-in innerhalb seiner eigenen Feste geheimen Plänen nachging und nicht wollte, daß ein Gefangener durch die Säle transportiert wurde, was ja Lärm machen und Aufmerksamkeit erwecken würde. Bydarra stellte keine Fragen, hatte keinen unmittelbaren Vorschlag, besuchte lediglich seinen Gefangenen, mit einem Ziel, das Vanye formlos und unheildrohend zwischen den Lords von Ohtij-in spürte.
Und mit dieser Erkenntnis kam eine schreckliche Hoffnung: die Hoffnung, Roh zu vernichten, diese Chance schien es hier zu geben. Es war nicht die Tat eines Kriegers:
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