Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
der verstorbene Herr der Burg unmöglich schon beerdigt sein. So eilig hatte es He-tharu, so dringend wollte er in seinem Machtstreben mit Roh reiten; und Macht hatte ihm Roh zweifellos versprochen, Versprechungen und Drohungen und direkte Warnungen sollten ihn nach Abarais führen, ehe die Flut heranrückte, ehe die Straße versperrt war. Vielleicht hatte sich Bydarra gegen eine solche Reise gestellt und immer neue Hindernisse erdacht, doch Bydarra würde sich gegen nichts mehr stellen — vielleicht auf Rohs Veranlassung; es war Hetharus grausamer Humor, die Schuld dorthin zu verlagern, wo Roh sie am wenigsten sehen wollte.
Vanye hörte das Hufgetrappel im Hof und sagte sich, daß dort wohl der größte Teil der Streitmacht von Ohtij-in ausrückte.
Und wenn Morgaine noch lebte, würde sie zu allem anderen noch
damit
fertig werden müssen — wenn sie nicht bereits, vorsichtiger und klüger als ihr
ilin,
Ohtij-in umgangen hatte und in Richtung Abarais unterwegs war.
Es war die einzige Hoffnung, die ihm noch blieb. Wenn Morgaine sich so verhalten hatte, war es um Roh geschehen, dann war er machtlos. Dieselbe Angst suchte zweifellos auch Roh heim, eine Angst, die ihn dazu trieb, in Ohtij-in ein Chaos zu hinterlassen, die ihn an die Seite von Verbündeten trieb, die sich bei der ersten Gelegenheit gegen ihn wenden würden. Wenn Roh zu spät kam, wenn Morgaine die Burg bereits passiert hatte und die Brunnen tot und vor ihm versiegelt waren, würden jene Verbündeten ihn bestimmt töten; und dann würde es in Ohtij-in eine weitere bittere Abrechnung geben, mit der Geisel für einen toten Feind.
Wenn Roh aber nicht zu spät kam, wenn Morgaine wirklich tot war, dann gab es andere Gewißheiten: er selbst war verpflichtet, nach Abarais zu reisen, um Roh zu dienen — ein herrloser
ilin,
der in Anspruch genommen wurde für einen anderen Dienst.
Etwas anderes gab es nicht, eine andere Wahl hatte er nicht — er mußte Roh das Leben nehmen, und er wußte auch, was sich daraus ergeben würde.
Irgendwo schloß sich eine Tür, ein hallender Laut; draußen schlurfte etwas auf Stein, Schritte klangen durch den Korridor. Bis zuletzt nahm Vanye an, der Betreffende habe ein anderes Ziel: aber da wurde der Türriegel knallend aufgezogen.
Er blickte zurück, und das Blut strömte ihm eiskalt durch die Adern, als er Kithan erblickte, der von Bewaffneten umgeben war.
Kithan trat zum Ende des Tisches vor, seine Bewegungen wirkten sicher; sein zartes Gesicht war gesammelt und abweisend. »Sie reiten ab«, sagte er leise.
»Ich habe deinen Vater nicht getötet«, versicherte ihm Vanye. »Es war Hetharu.«
Es kam keine Reaktion, nicht die geringste. Kithan stand reglos da und starrte ihn an, und von draußen dröhnte der Hufschlag der Pferde herein, die sich durch das Tor bewegten. Dann schlössen sich drohend die Tore, drinnen wie draußen.
Kithan atmete tief und zittrig ein, ließ die Luft langsam wieder entweichen, als genösse er die Luft. Er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie wieder mit derselben kühlen Gelassenheit. »Bald haben wir meinen Vater begraben. Unsere Beerdigungen sind keine übertriebenen Zeremonien. Dann kümmere ich mich um dich.«
»Ich habe ihn nicht getötet!«
»Ach nein?« In Kithans milchiggraue Augen kehrte die frühere verträumte Entrücktheit zurück, die jetzt aber ironisch wirkte, wie eine Pose. »Hetharu möchte nicht nur über Ohtij-in herrschen. Meinst du, Roh von den Chya wird ihm das andere geben?«
Vanye antwortete nicht, denn er wußte nicht, in welche Richtung das Gespräch führte, das ihm ohnehin wenig behagte. Kithan lächelte.
»Würde dieser Cousin deinen Tod rächen?« fragte er. »Möglich«, antwortete Vanye, und Kithan lächelte weiter. »Hetharu war schon immer langweilig«, sagte Kithan. Vanye atmete tief ein; endlich verstand er den anderen.
»Wenn du gegen deinen Bruder vorgehen willst, mußt du mich befreien. Ich bin nicht Rohs Verbündeter.«
»Nein«, antwortete Kithan leise. »Mir ist das gleichgültig. Mag sein, daß du schuldig bist, vielleicht auch nicht. Das bedeutet mir nichts. Ich sehe für keinen von uns eine denkbare Zukunft, und traue dir nicht mehr, als Hetharu deinem Cousin hätte trauen sollen.«
»Hetharu«, sagte Vanye, »hat deinen Vater umgebracht.« Kithan lächelte und wandte sich achselzuckend ab. Er gab einem der Männer neben sich ein Zeichen. Der Mann rief andere aus dem Korridor herbei, die einen kleinen, zerlumpten Schatten zwischen
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