Morgen letzter Tag!
Nihilismus lässt sich prima Mehrwert schaffen. Ähnliche Emotionen beschleichen mich, wenn ich mir die wunderbaren Naturfilme aus BBC -Produktionen ansehe: Sie schaffen es, Artefakte menschlichen Lebens konsequent aus ihren Tierfilmen herauszuhalten. Da gibt es weder Überland-Stromkabel noch einsame Hütten in den Bergen, keine Wege, keine Wanderer. Wieder ist man als Mensch reiner Zuschauer. Totale Nicht-Anwesenheit bis auf die des Blickes. Und obwohl am Ende eines jeden solchen Naturfilms die sonore Sprecherstimme mahnt, das eben gezeigte Paradies sei durch das Wirken des Menschen bedroht, so vermitteln doch die Bilder den Trost, es gäbe eben dennoch unberührte Refugien der Natur.
Tatsächlich erinnern mich diese von mir ebenso geliebten wie bewunderten Dokumentationen, die mit großem Aufwand produziert wurden, manchmal an den Film » Jahr 2022 – Die überleben wollen« (engl. » Soylent Green«) aus dem Jahr 1973 . Diese überraschend hellsichtige und immer noch grausig relevante Dystopie oder Anti-Utopie spielt in einer total überbevölkerten Welt, in der alles knapp geworden ist. Raum. Nahrung. Wasser. Empathie. Die Handlung erzählt von einem Polizisten (gespielt von Charlton Heston), der mit seinem alten Kollegen (gespielt von Edward G. Robinson) einen Mordfall untersucht. Bei den Untersuchungen kommt schlussendlich ans Tageslicht, dass » Soylent Green«, ein nährstoffreicher Keks, mit dem der Weltkonzern Soylent die zerlumpten Massen speist, nicht, wie behauptet, aus Plankton hergestellt wird, sondern aus dem Einzigen, was diese Welt noch im Überfluss zu bieten hat: Leichen.
Man fühlt sich an die Debatte im 18 . Jahrhundert erinnert, in der der Ökonom Thomas Robert Malthus ein exponentielles Wachstum der Bevölkerung vorhersah, aber ein nur lineares Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion, was unweigerlich in eine Hungerkatastrophe führen musste. Wieder ein Endzeitprophet, der sich getäuscht hat. Malthus hatte die fabelhafte Produktionssteigerung durch Industrialisierung, Dünger und moderne Landwirtschaftstechniken nicht erahnen können. Aber worauf ich hinauswill: Der Satiriker Jonathan Swift schlug im Zuge der Auseinandersetzung um die drohende Bevölkerungsexplosion vor, man solle doch einfach zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und Menschen essen. Dann hätten die Armen mal wieder einen Braten auf dem Tisch und die Übervölkerung wäre gleich mitbekämpft. Synergie nennt man das heute, glaube ich. Ein total rationaler Vorschlag aus dem Zeitalter der Rationalität. Hier kannibalisiert sich die Vernunft selbst. Guter Mann, der Swift. (Wenn Sie mal nichts Besonderes zu tun haben, lesen Sie »Gullivers Reisen« . Und nein, das ist kein Kinderbuch!) Zurück zum Film » Jahr 2022 – Die überleben wollen«: Im Verlauf der Handlung will der alte Kollege des Helden nicht mehr länger leben, besonders deswegen nicht, weil er hinter das eklige Geheimnis seiner Gesellschaft gekommen ist. Er geht in ein Euthanasiezentrum. Dort gibt man ihm einen Todestrunk, spielt ihm vom Band noch mal seine Lieblingsmusik vor und zeigt ihm einen Film. Einen Naturfilm über die Welt seiner Kindheit, aus einer Welt, die für immer verloren ist. Das ist ebenso effektvoll wie rührend. Und den betreffenden Film aus dem Euthanasiezentrum der nahen Zukunft habe ich, glaube ich, inzwischen schon öfter gesehen. Er ist von der BBC und heißt » Unsere Erde« oder » Der Ozean« oder von mir aus » Gewaltige Tierwanderungen« oder so. Ein schöner Film. Ganz ohne Menschen.
Es lässt sich wohl behaupten, dass sich die Mehrheit der Aufrufe zur Umkehr einer recht simplen Dichotomie bedient. Gut ist, was natürlich ist. Böse ist der Mensch. Genauer: die vom Menschen hervorgebrachte Technik. Das klingt doch ganz so, als würde man sich auf die Seite des » Guten« stellen können, wenn man sich wieder auf die Natürlichkeit besinnt. Also folgen wir dem Ruf von Jean-Jacques Rousseau und gehen zurück zur Natur?
Das dürfte schwierig werden. Denn der Mensch kann nicht zurück zur Natur, weil er nie dort war.
Jetzt sagen Sie, Moment, das stimmt doch so nicht. Der hängt da doch ständig herum, der Mensch. Besonders am Wochenende hektifiziert er gern in Seenähe, um mitsamt Familienanhang auf feuchtigkeitsabweisenden Polyamiddeckchen zu picknicken. Oder er chillt am Waldesrand, auf eigens für ihn abgesägten Baumstümpfen sitzend, an einem quer durchsägten Baumstamm, der eine Art von rustikalem Tisch abgeben soll,
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