Morgen trauert Oxford
Die Familie würde jedenfalls ein bisschen sauber machen, ohne dass der Eigentümer gleich Verdacht schöpfen musste.
Andererseits würde er sicher etwas bemerken, sinnierte Ant. Sie würden bestimmt das ein oder andere verändern. Einen Moment lang blieb Ant im Flur stehen und träumte von der Zukunft. Allmählich wurde es dunkel. Ohne Licht konnte er kaum noch etwas erkennen. Es war Zeit, zu den anderen zurückzukehren.
Normalerweise wechselte Ant die Schlösser aus, wenn er mit der Familie irgendwo einzog. Allerdings würden sie in diesem Haus nur ein paar Tage bleiben, und es war kaum zu erwarten, dass der Besitzer vor ihrem Verschwinden zurückkehrte. Wenn sie die Haustür während ihrer Anwesenheit immer ordentlich verriegelten, würde niemand unerwartet eindringen können, selbst wenn er einen Schlüssel besaß.
Ehe er die Familie holen ging, stieg Ant noch einmal in den Keller hinab. Es könnte nicht schaden, die Heizung ein wenig höher zu drehen, dachte er. Gegen Abend würde es sicher recht kühl werden, und vor allem Angel brauchte die Wärme. Anschließend verriegelte er sorgfältig alle Türen, dachte im letzten Moment daran, auch das Badezimmerfenster abzusperren, und verließ das Haus leise durch die Eingangstür. Am liebsten hätte er die Fingerspuren vom Lack gewaschen und den Messingbriefkasten poliert, doch er wusste, dass das keine besonders gute Idee war.
Er ließ die Schlüssel in die Tasche gleiten und wurde eins mit der grauen Dämmerung; ein grauer Geist. Immer noch kreisten seine Gedanken um Angel. Zunächst würden sie nach Leicester fahren und das tun, was sie dort zu tun hatte, aber anschließend sollte sie sich der Familie und einer gemeinsamen Zukunft verpflichten. Allerdings hatte er Angel noch nicht gesagt, was er mit ihr vorhatte. Damit wollte er noch warten, bis sie zu Kräften gekommen war und besser verstand, was es mit der Familie auf sich hatte.
Er würde rechtzeitig wieder bei den anderen sein. Innerhalb einer Stunde – genau wie er versprochen hatte.
Es war wichtig für Ant, seine Versprechen zu halten.
Kate Ivory saß im Arbeitszimmer am Computer und entwarf einen Brief an eine Frau, die sie nicht kannte. Den vollständigen Namen, O. R. Blacket, und ihre akademischen Titel hatte sie dem Leicester College Memorandum entnommen, einem Heft, das neben Namen und Titeln aller Mitglieder des Lehrkörpers auch das Jahr ihrer Einstellung und ihr jeweiliges Fachgebiet auflistete und auch einen Semester-Kalender sowie die Regeln und Bestimmungen des College enthielt. Kate adressierte den Brief an Dr. Blackets Büro im Leicester College und verwies mit sorgfältig gewählten Worten auf den gemeinsamen Bekannten Liam Ross und das literarische Interessengebiet, mit dem sie sich beide beschäftigten. Dann bat sie um einen Gesprächstermin.
Als sie mit dem Brief endlich zufrieden war, druckte sie ihn aus, adressierte ihn, klebte eine Briefmarke darauf und brachte ihn zum Briefkasten an der Ecke Fridesley Road.
Im Oktober fand Liam Oxford am schönsten. Touristen und Sprachschüler hatten die Stadt verlassen, und die Studenten zeigten sich zu Semesterbeginn noch voller Enthusiasmus und guter Vorsätze. Auch die Arbeitsbelastung war am Anfang eines neuen Studienjahrs durchaus auszuhalten.
Der Himmel hatte den ganzen Tag über ein strahlendes Blau gezeigt, das sich mit Einbruch der Dämmerung zu Kobalt- und Zinnfarben vertiefte. Auf dem Bürgersteig, wo Kinder sich damit vergnügt hatten, mit Stöcken Kastanien von den Bäumen zu schlagen, lagen stachlige Schalen. Überhaupt war der Herbst bisher recht mild und sonnig gewesen. Immer noch prangten alle Bäume im Schmuck bunter Blätter. Hibiskus und Herbstastern verschwendeten ihre Blütenpracht, als wollten sie endlos weiterblühen, die bunten Früchte der Hagebutten- und Quittensträucher jedoch zeigten deutlich, dass der Sommer vorüber war.
Während Liam über die St. Giles nach Norden radelte, erfreute er sich an der herbstlichen Luft, die einen leichten Duft nach Holzfeuer über Auspuffgase wallen ließ. Das unangenehme Gefühl, das ihn beim Verlassen des College gestört hatte, war verschwunden. Liam war frei und ungebunden; er konnte tun und lassen, was er wollte. Wen ging es etwas an, dass es in seinem Leben zwei Frauen gab? Wichtig war lediglich, dass sie nicht voneinander erfuhren. Er schuldete niemandem eine Erklärung. Den Gedanken, dass diese Entscheidung ziemlich einseitig war und den beiden anderen in die
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