Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
gefunden hatte, aber mit sich selbst im reinen war. Und mehr konnte er jetzt nicht erhoffen.
Außerdem hatte er beschlossen, daß Gaylord sich vorerst nicht ohne Begleitung außerhalb des Grundstücks bewegen sollte. Er selbst, Jocelyn, würde ihn jeden Tag zur Schule bringen und wieder abholen. Sobald das Wetter besser war, würden er und May mit dem Jungen Ausflüge unternehmen. Jedenfalls durfte Gaylord nicht allein herumstreifen. Das alles war lästig und unangenehm, aber diese friedliche, ländliche Gegend war von Gefahr überschattet, Gewalttätigkeit lauerte auf Wegen und Wiesen. Und obwohl es, vernünftig betrachtet, nicht sehr wahrscheinlich war, daß ein Halbwüchsiger wie Bert seine Vendetta gegen einen kleinen Jungen fortsetzte, war das doch keine Angelegenheit, bei der man ein Risiko eingehen durfte.
15
Frostig kam der Frühling, ließ die Lämmer und die Narzissen im Ostwind erbeben; der Fluß war grau und kalt wie der Styx, und die Krähen torkelten protestierend in den Lüften herum. Plötzlich war alles ganz anders. Die Luft war milde, und eine wohltuende Ruhe lag über dem Land. Die Baumstämme waren wie mit Sonnenlicht lackiert. Der Fluß glitzerte. Der Himmel war von farbigen Wolken belebt.
Doch das war erst der Anfang. Die Silberbirken legten ein zartgrünes Gewand an, der Weißdorn schüttelte seine weißen Flocken auf das Gras, und über dem Land türmte sich dramatisch der Aprilhimmel. May und Jocelyn wanderten staunend umher und riefen wie jedes Jahr: «Noch niemals ist der Frühling so herrlich gewesen.»
Für Rose traf das jedenfalls zu. Rose erlebte zum erstenmal in ihrem Leben das Glück erwiderter Liebe. Bobs war, nach einem langsamen Anlauf, sehr aufmerksam geworden. Rose hatte ihn zwar nicht oft für sich allein; aber mit Becky und Peter zusammen gaben sie ein ganz passables Quartett ab. Sie spielten Tennis, fuhren lange durch die stillen Abende und speisten in gemütlichen, kerzenerleuchteten ländlichen Gasthöfen. Und gelegentlich auf diesen Ausflügen hielt Bobs ihre Hand oder küßte sie sogar mit sichtlichem Vergnügen. Oh, es war wundervoll, und Rose blühte auf, genau wie das Land ringsum, sie lebte nur für den Augenblick und wußte tief in ihrem Herzen, daß das alles nicht lange andauern konnte, weil es ihr, wie sie meinte, vorbestimmt war, eine alte Jungfer zu werden. Und ihr weiblicher Instinkt sagte ihr noch mehr. Er sagte ihr, daß Bobs sie nicht wirklich liebte, daß er ohnehin kein Mann war, der von der Ehe etwas hielt. Sie wußte, daß das alles nicht so bleiben konnte, und wahrscheinlich wollte sie es auch gar nicht anders haben. Aber hier war ihre letzte Chance. Bevor der Frost kam, wollte sie die wenigen letzten Rosen pflücken.
Auch Gaylord freute sich über den Frühling. Manchmal stapfte er mit Opa über das Gelände, seine kleine Hand fest in dessen schwielige Faust gelegt. Manchmal machte er mit Mummi und Paps Spaziergänge, bei denen er knietief in einem Meer von Glockenblumen watete oder in kindlicher Versonnenheit einen murmelnden Bach betrachtete.
Wenn er es auch nie zugegeben hätte, fühlte er sich doch sehr erleichtert, daß er dabei niemals allein war. Obwohl seine Eltern sich große Mühe gaben, das als ganz natürlich erscheinen zu lassen, gab ihm dieser ständige Begleitschutz ein Gefühl von Wichtigkeit, vor allem aber hatte er wirklich Angst vor den jungen Foggertys. Sie waren eine Bande gefährlicher, bösartiger Bengels, hatten auf alles und jedes einen Groll, aber aus Gaylords Sicht waren sie zwei Meter große gewissenlose Mörder. Er wußte genau, daß sie in der Überzahl waren, schneller als er und stärker, und die Schmerzen, die er bereits von Willies Pranke zu spüren bekommen hatte, würden sich vertausendfachen. Schon der Gedanke daran war unerträglich.
Er hatte nur einen Kummer: Seine Zuneigung zu dem sonst immer sanften und harmlosen Willie war sehr stark, und es betrübte ihn, daß er seinen Freund nicht mehr zu sehen bekam. Er vergaß die Schmerzen des verdrehten Armes und erinnerte sich nur an Willies fast tierische Verzweiflung, als er sein Spielzeug verloren hatte. Er dachte Tag und Nacht an Willie. Auf irgendeine Weise wollte er Willie dafür entschädigen, daß er nicht alle Tassen im Schrank hatte, in einem so schäbigen Haus lebte und abgelegte Kleider trug. Und er wußte kein anderes Mittel, als sich in dem alten Steinbruch neben Willie zu setzen und auf sein Schweigen zu lauschen. Viel war das nicht. Aber
Weitere Kostenlose Bücher