Morpheus #2
dass es so lange dauert.» Er sah ihr eine lange Sekunde in die Augen, dann wandte er sich wieder seinem Kalender zu.
Der letzte Kommentar des Richters konnte Gutes oder Schlechtes verheißen. Ganz offensichtlich hatte sich Chaskel seine Gedanken gemacht, was bestimmte Dinge anging. Als ehemaliger Staatsanwalt war er nicht zu Spaßen aufgelegt, und als Richter war er alles andere als froh, wenn Fälle in seinem Gericht wieder aufgerollt wurden. Egal, aus welchem Grund. C. J. schickte Christophorus schnell noch ein Gebet.
Sie setzte sich auf den der Staatsanwaltschaft vorbehaltenen Platz auf der Galerie und sah zur Geschworenenbank auf der anderen Seite. Dort saßen – in Ketten – die Angeklagten, die aus dem Distriktsgefängnis hergeschafft worden waren, in der Bekleidung, die sie am Tag ihrer Verhaftung getragen hatten. Manche wirkten nervös, andere erwartungslos, wieder andere aufsässig und ag-gressiv. Keiner von ihnen interessierte sich für C. J.
Townsend, Bill Bantling, Cupido oder Morpheus –sie alle warteten nur darauf, dass der Richter ihren Namen aufrief und ihnen ein Angebot machte. Für manche gab es kein Angebot, sie bekämen die ge-setzliche Höchststrafe, weil sie sich das falsche Opfer ausgesucht hatten – jemanden, der zu jedem Gerichtstermin erschien und gehört zu werden verlangte. Andere bekamen den Deal ihres Lebens –wenn es kein Opfer gab, das sich beschwerte, keine Angehörigen, die sich engagierten, keine Zeugen, die sich einfanden.
C. J. sah zu, wie die junge, unerfahrene Ankläge-
rin auf dem Podium ihre Fälle vorbrachte. Sie war höchstens seit zwei Jahren mit der Uni fertig und hielt bereits die Zukunft so vieler Menschen in ihren Händen, wenn sie ein Strafmaß verlangte.
Keine Haftstrafe. Er erhält eine Unterlassungs-verfügung und zwei Jahre auf Bewährung.
Der Angeklagte ist Gewohnheitstäter. Wir bieten fünfzehn an, für alle Anklagepunkte zusammen.
Zwanzig Jahre.
Dreißig Jahre.
Lebenslänglich.
Es lag im Ermessen der Staatsanwaltschaft, ein Angebot zu machen, das irgendwo zwischen dem Maß auf dem Urteilsblatt des Angeklagten und der Höchststrafe für das Verbrechen lag, dessen er angeklagt war – die Differenz konnte beträchtlich sein.
Manche Ankläger waren härter, andere liberaler. Es war reine Glückssache, bei wem man landete.
Manchmal wurde sogar beim Mittagessen unter Kollegen und Abteilungsleitern um Jahre geschachert wie um Pennys beim Pokern.
Auf dem Blatt stehen sechsunddreißig Monate wegen mittelschweren Einbruchs. Er hat zwei Vorstrafen wegen Diebstahls, Wie viel soll ich vor-schlagen?
Das Höchstmaß sind fünfzehn Jahre. Hmmm…
bieten Sie ihm fünf. Und reichen Sie mir bitte den Ketchup.
Charlie, Mann, Sie sind echt ein harter Knochen.
Fünf? Ich würde ihm drei geben, Tim, und dann noch fünf auf Bewährung. Und ich brauchte das Salz, wenn Sie damit fertig sind.
Schon gut, schon gut. Der Kompromiss ist vier Jahre plus zwei auf Bewährung wenn er morgen zustimmt. Meinen Sie, das kriegen wir durch?
Handel abgeschlossen, Mittagessen beendet.
Genau das hatte C. J. bis vor wenigen Jahren auch getan. Auf einem anderen Podium, in einem anderen Gerichtssaal, mit einem anderen Richter hatte sie mit einhundert Fällen, einhundert Menschen auf einmal jongliert. Wo waren sie alle geblieben?, fragte sie sich jetzt. Hatte sie etwas bewirken können?
Neil Mann, ein großer Mann mit abgespanntem, traurigem Gesicht schlurfte herein und setzte sich an die gegenüberliegende Wand auf die Seite, die für die Verteidigung reserviert war. Er war Pflichtverteidiger gewesen und hatte als Assistent bei der Staatsanwaltschaft gearbeitet. Dann hatte er sich in seine eigene Kanzlei zurückgezogen, wo er sich vor allem auf Berufungsfälle spezialisierte, unter ange-strengter Vermeidung von Gerichtssälen und Prozessen. Er war nicht der Beste, aber dafür war er auch nicht so teuer wie zum Beispiel Lourdes Rubio, die dreihundert Dollar die Stunde nahm. Berufungen waren eine unangenehme, zeitintensive und teure Sache, und Bantling ging zur Zeit keiner allzu lukrativen Beschäftigung nach. Das ehemals dicke Polster, das seine Prozesse finanziert hatte, war längst verbraucht, nur war unglücklicherweise gerade so viel übrig, dass man ihm keinen kostenlosen Pflichtverteidiger gewährte. Aber eben nicht genug, um sich einen richtig guten Anwalt leisten zu können.
«Also gut», sagte Richter Chaskel schließlich um 11.30 Uhr, als der letzte Mann in Ketten
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