Morpheus #2
kühl an, als hätte er plötzlich alle Achtung vor ihr und ihrem Plädoyer verloren. Er ließ sich nicht gern in Frage stellen. Vor allem nicht von der Person, die ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte. Sein Ruf stand auf dem Spiel, vor der Öffentlichkeit, vor der Presse und natürlich vor den Berufungsrichtern – ein Ruf, den er sich über die Jahre mit seinen eindeutigen, klugen Urteilen und einer überaus niedrigen Berufungsrate hart erarbei-tet hatte. Ein Ruf, der ihm eines Tages eine höhere Position einbringen würde. «Ms. Townsend, Mr.
Bantling klagt wegen einer Verletzung der Brady-Bestimmung. Eine sehr empfindliche Verletzung, um genau zu sein. Nämlich, dass Sie und Ihre Mit-
arbeiter absichtlich Beweismittel vor ihm zurückgehalten haben in einem Fall, in dem es um die Todesstrafe geht. In meinem Gericht. Weiter behauptet er, dass Sie von Anfang an in geheimer Absprache mit Ms. Rubio standen, was die Zurückhaltung entlastenden Beweismaterials anging. Und jetzt kommen Sie mir mit Haarspaltereien bezüglich des Zeitpunkts, seit dem sie wusste, dass sie sich falsch verhalten hat?» Chaskel fiel es merklich schwer, ruhig zu bleiben. «Wenn Mr. Mann beweisen kann, dass es eine geheime Absprache gegeben hat –das sage ich Ihnen –, dann sind Ihre Worte keinen müden Penny wert. Ich weiß nicht mal, was es auf diesem Tonband zu hören gibt. Ich weiß nicht, ob es den Angeklagten entlastet. Ich weiß nicht, was Ms. Rubio auszusagen hat bezüglich dessen, was sie wusste und wann sie es wusste, aber das sage ich Ihnen, ich bin wirklich gespannt darauf. Denn ich habe hier vier Wochen in diesem Gerichtssaal gesessen und den Fall mit Ihnen verhandelt, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass je ein Tonband erwähnt wurde. Dagegen erinnere ich mich sehr gut an Mr. Bantlings Behauptung, Sie vor langer Zeit überfallen zu haben, und an die einhellige Meinung von Ihnen und seiner Verteidigerin, dass ein Prozess, in dem es um die Todesstrafe geht, nicht auch noch mit solchen Anschuldigungen belastet werden möge. Ich sage Ihnen eins, ich werde nicht gern an der Nase herumgeführt, vor allem nicht in meinem eigenen Gerichtssaal. Es war ein schmaler Grat, auf dem Sie beide sich bewegt haben! Also, Ms. Townsend, die Beweisaufnahme mag vielleicht ein, zwei oder auch zehn verschwen-
dete Nachmittage für uns alle bedeuten, aber wir ziehen das durch. Ich gehe dieser Sache auf den Grund. Und zwar in aller Konsequenz. Können wir jetzt bitte einen Termin festlegen?» Er sah ihr in die Augen, bis sie schließlich den Blick senkte und sich ihren Kalender vornahm.
«Ja, Euer Ehren», sagte sie kleinlaut. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, und sie biss sich auf die Innenseite der Wangen und versuchte, sich zusammenzureißen.
Sein Gesicht. Sie sah sein Gesicht, wie er sie lächelnd von der Seite musterte.
«Ms. Townsend? Sind Sie mit dem Datum ein-verstanden?» Der Richter klopfte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden, während seine Assistentin, Neil Mann und der Gerichtsreporter C. J. an-starrten.
«Entschuldigen Sie. Ich war in Gedanken, Euer Ehren. Welches Datum?»
«Der 1. März. Ein Montag. Ich werde alle Nach-mittagstermine der Woche freihalten, damit wir das Ganze schnell durchziehen können und der Angeklagte nicht ständig hin- und hergefahren werden muss. Er kann solange im Distriktsgefängnis untergebracht werden.»
Eine Woche. Mehr hatte sie nicht. «Ja, Herr Richter, ich glaube, das könnte passen», stammelte sie.
«Falsch. Es passt. Keine Entschuldigungen. Ich will alle Ihre Zeugen, Mr. Mann. Kein Geschiebe.
Und zuallererst will ich Ms. Rubio hören.»
«Kein Problem, Richter. Sie brennt darauf, auszusagen», sagte Mann und nickte eifrig. Seine Haltung war auf einmal aufrechter geworden. Der Sieg, an den er selbst kaum hatte glauben können, hatte Schwung in seine Bewegungen gebracht. «Das Ganze macht ihr sehr zu schaffen», schloss er und runzelte einfühlsam die Stirn.
«Verschonen Sie mich. Sehen Sie einfach nur zu, dass Ms. Rubio hier ist. Mit dem Tonband. Und seien Sie nett – schicken Sie der Staatsanwältin eine Kopie. Für den Fall, dass sie noch keine hat.»
«Wenn er auf mangelhafte Verteidigung plädiert, dann gibt er das Anwaltsgeheimnis preis. Damit habe ich Zugriff auf alle Akten der Verteidigung.»
Wenigstens würde ihr das helfen, sich auf den be-vorstehenden Frontalangriff vorzubereiten.
«Stellen Sie einen schriftlichen Antrag und sie gehören
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