Morpheus #2
gestressten Jurastudenten nicht weiter auffallen. Sie suchte jeden einzelnen Fall, den sie finden konnte, in dem es um Gesetz 3.851, eine Verletzung der Brady-Bestimmung und neue Beweisla-gen ging, heraus. Damit verkroch sie sich dann zwei Tage lang in ihrer Küche, versuchte, jeden Gedanken an Dominick aus ihrem Kopf zu scheuchen, und tüftelte sorgfältig an ihrer Stellungnahme – der juristischen Antwort auf Bantlings Antrag.
Wenn man in Florida wegen eines Schwer-
verbrechens verurteilt war, dann waren ein guter Berufungsanwalt und die Dreierbestimmung so ziemlich die letzte Chance, um doch noch freizu-kommen. Doch Nummer 3.851 war ein eigenwilliges Gesetz, und die Richter waren viel zu beschäftigt, um sich jeden Antrag auch anzuhören, der von einem verzweifelten Verurteilten aufgesetzt worden war, der zu viel Zeit hatte und Stift und Papier zu fassen bekam. Die Mühlen der Justiz wären in Kürze von Anträgen und verzögerten Terminkalendern blockiert, und so hatte man sich an die Statuten zu halten, oder man musste draußen bleiben. Wer einen Gerichtssaal von innen sehen wollte, hatte den Antrag innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu stellen – im Fall der Verurteilung zum Tode ein Jahr, nachdem Urteil und Strafmaß rechtsgültig geworden waren.
Um ein endloses Wiederaufrollen zu verhindern, lautete das Motto: «Er möge jetzt sprechen oder für immer schweigen.» Ein Jahr und einen Versuch, das war alles, was man bekam.
Es sei denn, man berief sich auf eine neue Beweislage. Diese Behauptung war der einzige Weg, dass eine Berufung jenseits der Frist mit Hilfe der Dreierbestimmung – und damit die allerletzte Hoffnung auf einen Platz an der Sonne – nicht sofort im Abfalleimer der Justiz landete. Allerdings funktionierte eine solche Behauptung nicht wie ein Zauberwort, das automatisch die Tore öffnete und das Verfahren neu aufrollte. Die Sache war sehr viel strenger. Ich habe das Beweisstück beim ersten Mal nicht finden können, war die falsche Antwort.
Es war mir nicht bekannt, weil mir das Beweisstück vorenthalten wurde, war da schon besser.
C. J. hatte sich vier Tage lang das Hirn zermartert, denn sie wusste, dass auch sie nur einen Schuss frei hatte. Wenn sie Bantling schon im Huff-Hearing stoppen könnte, würde er seine Panzer gar nicht erst auf den Hügel hinaufbekommen, um richtig in Stellung zu gehen. Beim Hearing war er selbst nicht dabei, nur sein Anwalt. Wenn sie es schaffte, seinen Antrag wegen verfahrenstechnischer Mängel gleich abzuweisen, dann würde er gar nicht erst die Chance bekommen, auf Kosten der Steuerzahler einen Kurzurlaub in Miami zu machen – denn dann würde es nicht zur Beweisaufnahme kommen.
Wenn sie ihn nach den Buchstaben des Gesetzes widerlegte.
Wenn sie den Antrag abwies, bevor sie ihm im Gericht gegenüberstand oder sich zu den «neuen»
Beweisen äußern musste.
Wenn sie keine neue Lüge fabrizieren müsste.
Oder sich an alte erinnern.
Wenn sie eine bessere Anwältin als Neil Mann war.
Wenn, wenn, wenn… Alles hing von diesem Wörtchen wenn ab, und sie zermarterte sich das Hirn, um eine Lösung zu finden – das juristische Wunder, das ihm dem Zugang zum Gerichtssaal verwehrte. Sie würde das Letzte geben, denn sie glaubte nicht, dass sie seinen Anblick noch einmal ertrug – sein entsetzliches Grinsen, wie ein alter Liebhaber, der sich an ein lauschiges Stündchen mit ihr erinnerte. Sie wusste, noch dringender als die Freiheit wollte er Rache. Er wollte zusehen, wie sie im Kielwasser ihrer eigenen Lügen ertrank.
Und natürlich gab es noch einen Grund, ihn schon jetzt zu widerlegen. Denn falls es zur Beweisaufnahme kam – falls die Ermittler und die Spurensicherung und die Pathologen wieder als Zeugen aufgerufen würden –, müsste sie alles noch einmal durchleben, das Protokoll eines gewaltsamen Todes, der um ein Haar ihrer gewesen wäre. Die sorgfältig geplanten Entführungen. Die Betäubungsmit-tel. Die Vergewaltigungen. Die Folter. Die Fotos.
Die Todeskammer. Der Geruch von schalem Sekt in ihrem Haar, der bittere Geschmack von Haldol im Mund, als die Spritze zu wirken begann, die Eises-kälte der stockfinsteren Kammer.
Ein paar Vans standen schon vor dem Gericht in der 11. Straße und reckten ihre Satellitenantennen in die Höhe, als sie am Donnerstagmorgen zur Arbeit erschien. Mehrere andere große Fälle wurden am gleichen Morgen verhandelt, beruhigte sie sich.
Die Mutter, die ihre Zwillingssöhne in der Badewanne erschossen hatte.
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