Morpheus #2
Road, Sexualverbrechen in ihrer Wohnung = RACHE?
Ihr Herz klopfte schneller. Sie griff nach dem Weinglas.
Nach ihrer zweiwöchigen Abwesenheit türmten sich auf dem Schreibtisch bei der Staatsanwaltschaft die Papiere. Die Anhörungen, die sie versäumt hatte, waren zum Großteil verschoben worden, und es erwartete sie ein Haufen Stellungnahmen, Sitzungen und Vernehmungen in ihren anderen Fälle. Daher hatte sie Lourdes Rubios Akten, die Neil Mann ihr per Kurier geschickt hatte, mit nach Hause geschleppt und verbrachte damit ihre Nächte. Akribisch ging sie jedes Dokument, jedes Wort durch. Es war, gelinde gesagt, beunruhigend, das Material vor sich zu sehen, das Lourdes zu-sammengetragen hatte. Insbesondere die Informationen über sie selbst.
C. J. rieb sich den steifen Nacken und schob ihren Stuhl weg vom Tisch. Es war Zeit für eine Ziga-
rette.
Sie nahm ihr Glas mit hinaus auf die Terrasse und zündete sich eine Marlboro an. Ein weißer Mond erleuchtete den Nachthimmel, und sie beobachtete die Parade der Boote auf dem Kanal. Wie viele Nächte hatte sie mit Dominick hier draußen gesessen, auf den harten Plastikstühlen, wie oft hatten sie über einer Flasche Wein – manchmal auch mehreren – stundenlang geredet. Er hatte immer davon geträumt, ein Boot zu kaufen, und ihr versprochen, wenn sie beide in Rente gingen, würde er mit ihr um die Welt segeln. Oder wenigstens bis in die Keys, nachdem sie beide nur mit staatlichen Renten rechnen konnten.
Sie wählte seine Handynummer, aber es war nur die Mailbox zu erreichen, und sie legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. In der Anrufliste würde er sehen, dass sie schon wieder angerufen hatte. Wahrscheinlich war er mit Manny oder Chris ausgegangen, oder vielleicht auch ganz allein, um seine Sorgen zu ertränken – Sorgen, an denen sie schuld war. C. J. presste das Telefon gegen ihre Stirn. Sie wünschte, er wäre drangegangen. Sie wünschte, sie hätte seine Stimme gehört. Sie wünschte, er würde sie nicht hassen, auch wenn sie wusste, dass sie es ihm nicht verübeln konnte.
Sie hatte das Gefühl, ihre ganze Welt brach auseinander. Dominick. Ihre Karriere. Ihr Leben. Obwohl sie versuchte, die schwarzen Gedanken zu verdrängen und sich auf das zu konzentrieren, was zu um war, wurde es immer schwerer, durch den Tag zu kommen. Sie fühlte sich immer isolierter.
Das war kein gutes Zeichen.
Am tiefsten Punkt ihrer Depression vor vielen Jahren, als sie nicht mehr schlafen konnte, hatte sie ihn überall gesehen – den Fremden mit dem Clownsgesicht, hinter dem jedermann stecken konnte. Damals hatte die Therapie sie gerettet, hatte sie die nächsten zwölf Jahre überstehen lassen und ihr geholfen, die Ängste in den Griff zu bekommen. Die letzten zehn Jahre der Therapie hatte sie bei dem forensischen Psychiater Gregory Chambers verbracht. Greg war nicht nur ihr Arzt gewesen, sondern auch ein Freund und ein Kollege, der bei unzähligen Fällen als Experte für sie in den Zeugenstand getreten war.
In diesen zehn Jahren hatte er dafür gesorgt, dass sie nicht wieder in die Nacht der Depression abrutschte. Er war ihr Vertrauter gewesen, ihr Tröster, ihr Rettungsring, wenn es wieder schlimm wurde und sie nicht wusste, wie sie morgens aus dem Bett kommen sollte. Und dann plötzlich, als sie ihn am dringendsten brauchte, hatte sie herausgefunden, dass er nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte. Sie hatte herausgefunden, dass er die ganze Zeit über auch den Mann behandelt hatte, der sie in ihren Albträumen jagte. Dass sie nicht in Therapie gewesen war – sondern Teil eines kranken Experiments.
Sie wusste nicht genau, wann ihr freundschaftli-ches Verhältnis umgeschlagen war – falls Greg je so etwas wie ihr Freund gewesen war. Diese Fragen würden für immer unbeantwortet bleiben.
Damals war Dominick gekommen, um sie zu retten, er war ihre Therapie gewesen, als alles andere zusammenbrach. Doch jetzt…
O nein… Sie schüttelte den Kopf, unterdrückte die Tränen, die sich schon wieder sammelten. Das würde nicht passieren. Sie würde nicht wieder in eine Depression fallen. Das wäre zu einfach – und es war viel zu schwierig, dort je wieder herauszukommen. Sie strich sich das Haar zurück und sah das Telefon an. Dann wählte sie.
«Ja, bitte?»
«Hallo, Mom», sagte sie, als sich ihre Mutter am anderen Ende meldete. Im Hintergrund plätscherte Wasser und Geschirr klapperte. «Ich bin’s.» Es war Wochen her, dass sie mit ihren Eltern
Weitere Kostenlose Bücher