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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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bei ihnen sein. Könnte ich das noch? Sie in Zivilkleidung umarmen, mit ihnen trinken und dann irgendeinen Weg heraus aus allem finden, hier oder da entlang, nach Frankreich, dort wieder in die Armee, vielleicht auch ohne Pferd, wieder Uniformen, Tages- und Sonderbefehle, Rapports, Kommandos, Personalbögen, und am Ende vielleicht ein Krieg, und was dann im Krieg? Jahre im Schützengraben vor sich hin faulen, auf einer Seite die Deutschen, auf der anderen wir, Bunker, Geschütze und Stacheldraht, Schlamm und irgendwann das Schicksal meines Vaters, ohne Gesicht und Schwanz; oder anderes – ein schneller Krieg wie bei uns, Verfolgungsjagd über Felder und Hügel, zerstörte Verbindungen, niemand weiß, wo die Front ist, und es gibt auch keine, mechanisierte und Panzerdivisionen durcheinander, alle jagen sich gegenseitig, ungeschützte Flanken, Hinterhalte und Rückzüge, wir ziehen in Berlin ein oder Berlin in uns.
    Und was sollte ich da überhaupt?
    Ich bin Konstanty Willemann und mag es bei Frauen, wenn der Hintern leicht hervorsteht, muskulös und straff, wie bei der kleinen ungarischen Köchin, die ab und zu aus der Küche lugt. Ich mag weder Militär noch Pferde noch Uniformen noch Gewehre; ich habe gern eine Pistole bei mir, das gehört sich für einen Gentleman, am liebsten eine kleine, flache vom Kaliber sieben, so wie die Sauer meines Vaters, die ich im Hotel aus dem Halfter genommen und mir für alle Fälle hinten in den Hosenbund geschoben habe. Entgegen meiner Befürchtung fällt das Jackett trotzdem glatt, ich habe ein bisschen abgenommen.
    Ich habe den Pflaumenbrand getrunken, er war angewärmt im eisgekühlten Glas. Ich bin betrunken. Dzidzia lächelt, sie isst und trinkt so viel wie ich, so viel wie ein hungriger, erschöpfter Mann.
    «Ich weiß nicht, wer ich bin», sage ich leise auf Polnisch, Polnisch muss man leise sprechen, und dabei spüre ich den Alkohol in der Kehle brennen.
    Ich bin betrunken. Sehr betrunken. Ich bin die Mitte der Welt, ihre Achse; das Wirtshaus, die Menschen, die Decke und Tische drehen sich um mich.
    «Hier habe ich mich mit ihm getroffen, weißt du?», flüstert Dzidzia mir auf Polnisch zu.
    Ich antworte nicht, was soll ich sagen? Ich bin verstummt. Und sie, betrunken, beginnt zu flüstern, zu mir, aber eigentlich mehr zu sich selbst, sie sucht meinen Blick nicht, achtet nicht darauf, ob ich zuhöre, flüstert nur, leise und fast unterbrechungslos:
    «Hier haben wir gesessen, hier an diesem Tisch. Wir tranken Wein und aßen, wir unterhielten uns auf Deutsch oder Französisch, und manchmal, wenn wir schon lustig waren, redeten wir in unseren Sprachen miteinander, wobei ich kein Wort Ungarisch kann, er immerhin ein paar Brocken Polnisch, denn er war in Oberungarn aufgewachsen und verstand ein bisschen Slowakisch, also auch Polnisch, na ja, einzelne Wörter. Neunmal haben wir uns gesehen. Nicht immer hier, hier fünfmal vielleicht. Er hatte keine Angst, sich hier mit mir zu verabreden, obwohl er ganz nah wohnte, in dieser Straße. Er wohnt bestimmt immer noch da. Am ersten September hat er mich angerufen, da funktionierten die internationalen Verbindungen noch, er sprach mir seine Solidarität aus, sein Mitgefühl und sein Bedauern über den Krieg. Aber ich hörte, dass seine Stimme vor Fröhlichkeit bebte, ich begriff überhaupt nicht, warum, und ich wurde wütend und knallte den Hörer auf, er rief dann noch mal an und entschuldigte sich, bevor ich mich entschuldigen konnte, und erklärte: Er habe gerade einen Sohn bekommen. Am ersten September. Dennoch hat er an mich und an uns, an Polen, gedacht und angerufen. Ich gratulierte ihm, ich erinnere mich an seine Frau, ich habe sie gesehen, eine große, ätherische Jüdin mit edlem, schmalem Gesicht und langen Händen. Als ich sie sah, habe ich gedacht, die würde ihm nie ein Kind schenken, mit ihren schmalen Hüften. Hat sie aber. Ich sagte, er solle sich keine Sorgen machen, wir würden Hitler bald schlagen und unsere Pferde in der Spree tränken. Ich wusste, dass wir verlieren würden, bin ja nicht blöd, aber ich sagte das, um ihn zu beruhigen.»
    Sie verstummt. Ich verstehe, dass das wichtig war. Wichtiger als Polen, Deutschland, Ungarn und die Juden zusammen. Wichtiger als der Krieg. Wichtiger als unsere Konspiration, der Endsieg oder die Endniederlage, wichtiger als mein Kampfweg und das Tapferkeitskreuz und das Eiserne und die deutsche Uniform und der polnische Smoking, den ich trage. Dzidzia und ihr Ungar, der sie

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