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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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erinnert sich an die Mütze auf dem Schädel, den knöchernen Vaterschädel oben auf dem väterlichen Leib, den in den weichen Körperfalten verborgenen Schädel, den hinter dem Gesicht versteckten Schädel, und dennoch leuchtete dieser Schädel dort hindurch, wo ein englisches Schrapnell ihn erwischt, ein Stück herausgebissen hatte. Poetisches Narbengewebe, rosig und haarlos, war über diese Blessur gewachsen, ausgebleicht, gehärtet, aber doch vorhanden, und der Schädel war darunter, versteckt und doch freigelegt, denn die Narbe bespannt die Blessur, versteckt sie nicht.
    O die Schädel unserer Väter und die Schädel der Väter unserer Väter!, denkt Konstanty.
    O Schädel des alten Herrn Willemann, o Schädel des alten Herrn Strachwitz, o Schädel der Ritter, die bei Legnica gefallen sind, o Schädel der namenlosen Kaufleute, die weiß der Teufel warum nach Schlesien gekommen waren, aus Franken und Wallonien, die aus Ehrfurcht oder zur Abschreckung gepfählten Schädel der Barbaren, all die verwesten, zu Staub zerfallenen Schädel, die im Kapillarkreislauf sie fressenden Insekten, Schädel, die mit den vertilgten Käfern in Vogeladern kreisen und mit dem toten Vogel auf Brachland fallen, als Roggen aufgehen und zu Getreide reifen, verspeist von ihren Nachkommen, durch deren Adern sie dann laufen und über deren Kloaken und Güllegruben und Abwasserkanäle sie zum Meer strömen.
    Und die Schädel fließen zum Meer, wir schreiben das Jahr 1937 , ein gutes Jahr, ein glückliches Jahr. Konstanty sitzt am Tisch oben in der Ziemiańska und die Ostsee, Zakopane und Krakau, im Cabriolet, auf Skiern, Picknick, Stawisko, all das. Mit der silbernen Lockheed nach Wien, einfach so, aus Laune. Die Schimmel in der Hofreitschule.
    Und jetzt ist das alles erloschen, die Cafés und die Aeroplane, und ich bin allein zurückgeblieben in dem Zimmer mit Küche in der Dobra, allein, aber nicht einsam, ich und sie sind hier, viel von ihr ist in den Graphikmappen.
    Schließlich stehe ich auf, wische mich ab mit dem Laken, zieh die Hose an, knöpfe die Träger zu. Noch einmal vor den Spiegel, mein Gesicht, angeschwollen.
    Das erste Mal bin ich allein bei Sala, wozu hätte ich früher allein bei ihr sein sollen, wenn ich sie gar nicht brauche, das heißt, früher brauchte ich sie nicht.
    Früher brauchte er sie nicht, aber jetzt braucht er sie. Also bleibt er. Und er öffnet die Mappen.
    In den Mappen ist sie. Sie. Fotos. Drei Salomés auf einem Abzug, ich weiß nicht, ob von drei Negativen oder von einem einzigen, dreimal belichteten Negativ, drei Salomés, und keine hat die mindeste Ähnlichkeit mit meiner. Meine Salomé ist wie Lilith, sie trägt die ganze weibliche Dämonie in sich, ihre Sexualität ist höllengleich, jeder ihrer Orgasmen ist Sünde, und jeder ihrer Blicke, jede ihrer Berührungen ist Sünde.
    Die Salomé auf den Fotos ist ein kleines Mädchen. Gesicht, Körper – das ist sie. Aber der Blick – wenn verdorben, dann höchstens verdorbene Unschuld. Meine Salomé aber hat keine Spur von Unschuld oder Erinnerung. Die fotografierte Salomé erlebt keine Orgasmen, die Salomé gibt sich dem Mann aus Liebe hin. Meine Salomé braucht den Mann für sich selbst.
    Also die nächste Mappe. Bleistiftzeichnungen. Ich weiß nicht, von wem. Auf der Mappe der Name: Hermann. Mit zwei «n». Bleistiftzeichnungen. Verliebter Junge: hübsche Porträts, Silhouetten von Salomé, Alltagsleben, Salomé liest ein Buch, Salomé schreibt einen Brief, Salomé isst einen Apfel, Salomé kämmt ihr Haar. Eine Frau voller Liebe und voller Leben. So eine würde man gern zur Mutter seiner Kinder machen – nicht um des Aktes willen, sondern um wirklich zu sehen, wie sie die Kleinen in ihren Armen herzt. Wie verlogen, diese Zeichnungen. So kann Salomé nie sein, Salomé hat nichts von den Frauen, die ihre Scham bersten lassen, um einen weiteren überflüssigen Menschen zur Welt zu bringen.
    Die Menschen sollten besser sterben, als geboren zu werden, Geburten sind unwürdig, es ist niedrig, im Erscheinen auf der Welt die eigene Existenz einzufordern. Der Tod ist eine hochmütige, doch stolze Tat – indem wir uns der Nichtexistenz zuwenden, wählen wir das Würdigere. Denn dem Leben wohnt etwas Beschämendes inne, Dasein, das ist wie beim Abendessen laut Darmwinde zu lassen, Sein ist jämmerlich, Sein ist lächerlich, ungut. Nichtsein – das ist das Raffinierte. Nichtsein ist elegant. Ich schäme mich dafür, dass die Verantwortung für den

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