Morphogenesis
dem Betrachter Küsse entgegenhauchten und ihn nicht mehr aus den Augen ließen. Zwar waren auch hier weder Chroner noch Zyklopen zu sehen, doch unbeobachtet fühlte ich mich keinesfalls. Mit Sicherheit übernahmen die Hologrammschönheiten (oder jene, die hinter den Scheiben saßen) die Aufgabe, den Zugang zu überwachen.
Niemand versperrte mir den Weg, sodass ich ungehindert dem Spektakel jenseits der Passage entgegenschreiten konnte. Hinter mehreren Barrieren aus schweren Samtvorhängen öffnete sich schließlich ein weiträumiger, überkuppelter Saal. Angenehme Musik berieselte eine enorme Anzahl von Besuchern – oder Büßern –, überlagert von einem Stimmengewirr aus Kobe und zahllosen weiteren Sprachen. Die Halle besaß einen Durchmesser von über einhundert Metern. Ihre Rundkuppel bestand aus riesigen Monitorwaben, die synchron ein Panorama aus paradiesischem, surrealem Himmel und weitem Meer projizierten, worin der Saal ein bevölkertes Eiland bildete. Schäumende Wogen rollten aus der Weite des mal purpurnen, mal smaragdblauen Ozeans heran und leckten über einen weißen Sandstrand, auf dem sich Palmen im warmen Wind wiegten. Der von Wolken durchzogene Himmel wechselte ständig seine Farbe, mal zu Saphirgrün, mal zu Rubinrot. Riesenhafte Schmetterlinge in allen Regenbogenfarben flatterten über die Bildschirme. Alles wirkte sehr beruhigend, was wohl beabsichtigt war. Als ich genauer hinsah, entpuppten sich die Schmetterlinge als hüllenlose, geflügelte Schönheiten, bezaubernd lächelnd und sich stets verführerisch zum Flügelschlag bewegend.
Echt waren nur der feine Sand, der den Boden der Halle bedeckte, und der warme Windhauch, der aus verborgenen Ventilatoren strömte. Ein beigeleiteter Duftstoff sorgte dafür, dass es nach Meer und – ich schnupperte betört – Liebe roch? Eine Melange aus Vanille- und Lotosblütenduft schwängerte den Saal. Aber es lag noch ein anderes Aroma in der Luft, das trotz der Intensität der Parfums stets präsent war. Man nahm es wahr, wenn man tief einatmete. Es roch süßlich und nach Kupfer – der Geruch von Blut …
Hier und da entdeckte ich nun auch Chroner und durch den Sand wieselnde Zyklopen, aber keiner von ihnen sah mich misstrauisch an oder kümmerte sich um mich. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, als ignoriere hier jeder jeden.
Ich entspannte mich ein wenig und richtete meinen Blick bei meiner Suche nach Byron auf eine ausladende Bar. Hunderte von Tischen ragten aus dem Sand, von denen mindestens die Hälfte besetzt war. Ich bückte mich und ließ eine Hand voll Sandkörner durch meine Finger rieseln. Sie waren tatsächlich echt – im Gegensatz zu der sich durch den halben Saal spannenden Theke aus Palmstammimitaten und dem Dach aus falschen Palmblättern und Bambushölzern. Vieles in diesem eigenartigen Höhlenlokal sah aus wie billige Plastikimporte von der Erde.
Die Erde …
Ich schüttelte den Kopf. Meine Gedanken hatten sich schon so weit von zu Hause entfernt, dass ich mir vorkam wie auf einem anderen Planeten. Dass ich die reale Welt verlassen hatte, hatte ich mittlerweile akzeptiert – obwohl mich von ihrer Oberfläche möglicherweise nur eintausend Meter Höhenunterschied trennten.
Möglicherweise.
Unentschlossen, wohin mit der Rebasche, schulterte ich sie schließlich wie ein Gewehr, schlenderte über den Sand und ließ weiter meinen Blick schweifen. Mitten im Saal entdeckte ich Byron. Er trug zwei hohe, schmale Gläser mit einer hellgelben Flüssigkeit in seinen Händen und unterhielt sich mit einem wohlbeleibten, vollbärtigen Individuum in Dominikanerkutte. Als er mich sah, bewegte er sich flink zwischen den Tischen hindurch zu mir herüber und hielt mir eines der Gläser entgegen.
»Willkommen in Nimrods Taverne«, rief er übermütig laut, dann beugte er sich vor und raunte: »Trink, sonst gibt’s Ärger!«
»Wo sind wir hier?«
»In einem weiteren Büßersektor, bei den Demagogen und falschen Propheten, den Hetzern und Volksverführern. Ein leicht reizbares und sehr fanatisches Volk. Ich führte soeben ein angeregtes Gespräch mit Fra Girolamo Savonarola.«
Ich äugte an Byron vorbei auf den bärtigen Fleischberg, der sich zu einem korpulenten, gelangweilt dreinblickenden Glatzkopf setzte und ihn in ein Gespräch verwickelte. »Ich sehe niemanden büßen«, erklärte ich. »Und aggressiv sehen nicht einmal die Chroner aus.«
»Das ist die Ruhe vor dem Sturm. Wir haben glücklicherweise einen Zeitpunkt der Regeneration
Weitere Kostenlose Bücher