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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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wirklich
erfreut über meinen Besuch und geleitete mich schwungvoll den breiten, weißen
Korridor entlang.
    »Es wird
einsam um sie, wenn es auf das Ende zugeht«, sagte sie. »Vor allem, wenn sie nicht
verheiratet waren und keine Kinder oder Enkel haben.«
    Ich nickte
zustimmend und bemühte mich, mit ihr Schritt zu halten. Eine Tür nach der
anderen, dazwischen, an der weißen Wand, jeweils eine Hängevase mit Blumen.
Violette Blumen, nicht mehr ganz frisch, reckten die Köpfe über den Vasenrand,
und ich überlegte, wer wohl dafür zuständig war, sie auszuwechseln, fragte
aber nicht danach, während wir weiter den Korridor hinuntergingen, bis wir vor
einer Tür ganz am Ende stehen blieben, durch deren Glasfenster ich einen
gepflegten Garten sehen konnte. Die Pflegerin hielt die Tür auf, gab mir mit
einer Kopfbewegung den Vortritt und folgte mir auf dem Fuße.
    »Theo«,
sagte sie lauter als normal, aber ich konnte nicht sehen, mit wem sie sprach.
»Sie haben Besuch ... äh«, sie drehte sich zu mir um. »Verzeihen Sie, ich habe
Ihren Namen vergessen.«
    »Edie.
Edie Burchill.«
    »Edie
Burchill ist hier, um Sie zu besuchen, Theo.«
    Da sah ich
sie, eine schmiedeeiserne Bank hinter einer niedrigen Hecke, und einen alten
Mann, der davorstand. An der Art, wie er dastand, leicht gebeugt, eine Hand auf
der Rückenlehne der Bank, war zu erkennen, dass er gerade noch gesessen hatte
und aus alter Gewohnheit aufgestanden war, ein Überrest guter Manieren, die er
sein Leben lang befolgt hatte. Er blinzelte durch dicke Brillengläser. »Guten
Tag«, sagte er. »Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?«
    »Ich lasse
Sie beide dann allein«, sagte die Pflegerin. »Ich bin da drinnen. Rufen Sie
einfach, falls Sie etwas brauchen.« Sie nickte und entfernte sich mit forschen
Schritten über den mit Backsteinen gepflasterten Weg. Die Tür fiel hinter ihr
zu, und Theo und ich waren allein im Garten.
    Er war
winzig, höchstens eins fünfzig, dafür erstaunlich füllig, eine Aubergine mit
einem Gürtel an der dicksten Stelle. Er machte eine Geste mit einer stark
behaarten Hand. »Ich habe hier gesessen und auf den Fluss geschaut. Er steht
nie still.«
    Seine
Stimme gefiel mir. Etwas in ihrem warmen Timbre erinnerte mich daran, wie es
war, als kleines Kind im Schneidersitz auf einem staubigen Teppich zu hocken,
während ein Erwachsener hoch über mir in beruhigendem Ton ein Märchen erzählte
und meine Fantasie auf Reisen ging. Plötzlich wurde ich mir bewusst, dass ich
keine Ahnung hatte, was ich dem alten Mann sagen sollte. Mich beschlich das
Gefühl, dass es ein großer Fehler gewesen war, hierherzukommen, und ich wollte
nur noch weg. Ich hatte gerade den Mund geöffnet, um mich zu verabschieden, als
er sagte: »Ich rede dummes Zeug. Ich fürchte, ich kann mich nicht an Sie
erinnern. Verzeihen Sie, mein Gedächtnis ...«
    »Es ist in
Ordnung. Wir sind uns noch nie begegnet.«
    »Ach?«
Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er überlegte. »Verstehe ... na ja,
macht nichts, jetzt sind Sie ja hier, und ich bekomme nicht oft Besuch ... Es
tut mir schrecklich leid, ich habe Ihren Namen schon wieder vergessen. Ich
weiß, dass Jean mir gesagt hat, wie Sie heißen ...«
    Mach, dass du wegkommst!, rief eine innere Stimme. »Edie«,
sagte ich. »Ich bin gekommen, um Sie nach Ihrer Suchanzeige zu fragen.«
    »Meine ...
?« Er legte eine Hand ans Ohr, als hätte er mich falsch verstanden. »Meine
Suchanzeige, sagten Sie? Tut mir leid, aber ich fürchte, Sie verwechseln mich
mit jemandem.«
    Ich zog
die Kopie der Anzeige aus der Times aus meiner
Umhängetasche. »Ich bin hier wegen Thomas Cavill«, sagte ich und hielt ihm die
Kopie hin.
    Aber er
schaute das Blatt nicht an. Ich hatte ihn verblüfft, in seinem Gesicht zeigte
sich erst Verwirrung, dann freudige Erregung. »Ich habe Sie erwartet«, sagte
er eifrig. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Wer sind Sie? Sind Sie von der
Polizei? Von der Militärpolizei?«
    Polizei? Diesmal war ich verwirrt. Ich schüttelte den Kopf.
    Er war
ganz aufgeregt, rang die kleinen Hände und sprach sehr schnell: »Ich wusste,
wenn ich nur lange genug durchhalte, würde sich irgendwann irgendjemand für
meinen Bruder interessieren ... Kommen Sie«, er wedelte ungeduldig mit einer
Hand. »Bitte setzen Sie sich. Sagen Sie mir — was ist es? Was haben Sie
herausgefunden?«
    Ich war
völlig verdattert. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Ich trat näher zu ihm
und sagte sanft: »Mr. Cavill, ich glaube, Sie

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