Morton, Kate
haben?«
»Tja«,
sagte Gilbert und senkte die Stimme. »Ich gebe zu, dass ich ein bisschen
nachgeforscht habe. Je hartnäckiger sie Juniper da raushalten wollten, umso
mehr weckte das meine Neugierde.«
»Und? Was
haben Sie herausgefunden?« Vor Erregung drückte ich den Hörer so fest ans Ohr,
dass es schmerzte.
»Ein
Vorkommnis im Jahr 1935, eine Art
Skandal.« In seiner Stimme schwang Genugtuung mit, und ich stellte mir vor, wie
er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, die Hausjacke über dem Bauch gespannt,
die Pfeife zwischen den Zähnen.
Ich senkte
ebenfalls die Stimme. »Was denn für ein Skandal?«
»Irgendeine
>üble Angelegenheit<, wie man mir sagte, in die der Sohn eines
Angestellten verwickelt war. Einer der Gärtner. Ich konnte nichts Genaues darüber
zutage fördern und habe auch nirgendwo eine offizielle Bestätigung des Vorfalls
gefunden. Aber es heißt, die beiden wären aneinandergeraten, und Juniper hätte
den Jungen grün und blau geprügelt.«
»Juniper?« Ich sah die zerbrechliche alte Frau vor mir, der ich in Milderhurst
begegnet war, das zarte Mädchen auf den Fotos. Ich musste mich beherrschen, um
nicht laut zu lachen. »Mit dreizehn?«
»So hat
man es mir erzählt, auch wenn es ziemlich unglaublich klingt, wie ich zugeben
muss.«
»Aber das
hat er den Leuten erzählt? Dass Juniper ihn grün und blau geprügelt hat?«
»Er hat nichts
dergleichen gesagt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele junge
Burschen gibt, die freiwillig zugeben würden, dass sie von einem hageren
Mädchen wie Juniper verprügelt worden sind. Die Mutter des Jungen ist auf dem
Schloss vorstellig geworden, um sich zu beschweren. Angeblich hat Raymond
Blythe ihr Geld gegeben, damit sie den Mund hielt. Offenbar wurde das Geld
offiziell als Bonus für den Vater des Jungen gezahlt, der schon sein Leben lang
als Gärtner auf dem Anwesen arbeitete. Aber es kam zu Gerüchten, und im Dorf
wurde noch lange darüber geredet.«
Ich hatte
immer mehr den Eindruck, dass die Leute sich mit Vorliebe über Juniper das Maul
zerrissen: Sie stammte aus einer bedeutenden Familie, sie war schön und klug,
sie war - für meine Mutter zumindest - bezaubernd. Und dennoch: Juniper sollte
als junges Mädchen einen gleichaltrigen Jungen verprügelt haben? Das klang,
gelinde gesagt, ziemlich unwahrscheinlich.
»Hören Sie,
es ist wahrscheinlich nichts weiter als ein Gerücht.« Gilbert klang wieder
etwas lebhafter, als er meine Gedanken aussprach. »Es hat bestimmt nichts
damit zu tun, dass die Schwestern mich nicht mit ihr reden lassen wollten.«
Ich nickte
langsam.
»Viel wahrscheinlicher
ist, dass sie ihr den Stress ersparen wollten. Sie ist kränklich, fürchtet sich
vor Fremden. Außerdem war sie noch nicht mal geboren, als der Modermann geschrieben
wurde.«
»Ja,
vermutlich haben Sie recht«, sagte ich. »Ich denke auch, dass nicht mehr
dahintersteckt.«
Aber ich
war keineswegs überzeugt. Zwar glaubte ich nicht, dass die Zwillinge sich wegen
eines längst vergessenen Vorfalls mit dem Sohn des Gärtners sorgten, aber ich
wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas anderes der Grund für ihr
Verhalten sein musste.
Nachdem
wir das Gespräch beendet hatten, befand ich mich wieder in diesem unheimlichen
Korridor, schaute von Juniper zu Saffy und Percy und fühlte mich wie ein Kind,
das alt genug ist, um zu spüren, dass etwas nicht stimmt, aber noch nicht in
der Lage, die Zeichen zu deuten.
Am Tag
meiner Abreise nach Milderhurst kam meine Mutter am frühen Morgen in mein
Zimmer. Die Sonne war noch nicht hinter Singer & Sons aufgegangen, aber ich
lag schon seit ungefähr einer Stunde wach, aufgeregt wie ein Kind am ersten
Schultag.
»Ich
wollte dir etwas geben«, sagte sie. »Das heißt, ich möchte es dir leihen. Es
bedeutet mir sehr viel.«
Sie nahm
etwas aus der Tasche ihres Morgenmantels. Einen Moment lang schaute sie mich
prüfend an, dann gab sie mir ein kleines, in braunes Leder gebundenes Buch.
»Du hast
doch gesagt, du wolltest mich besser kennenlernen.« Sie bemühte sich, tapfer zu
sein, mit fester Stimme zu sprechen. »Hier steht alles drin. Über sie. Die kleine
Meredith, die ich einmal war.«
Ich nahm
das Tagebuch so vorsichtig entgegen wie eine Mutter ihr Neugeborenes. Überwältigt
von seiner Kostbarkeit, ängstlich, es zu beschädigen, verwundert und gerührt
und dankbar, dass sie mir einen solchen Schatz anvertraute. Ich wusste nicht,
was ich sagen sollte, das heißt, ich hätte alles Mögliche sagen
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