Morton, Kate
oder innerhalb des alten
Gemäuers von Milderhurst lag, sondern in den Parks und Cafés und den
literarischen Zirkeln Londons. Als sie und Percy noch klein waren, nach dem Tod
ihrer Mutter, aber noch vor Junipers Geburt, als sie also noch zu dritt gewesen
waren, da hatte ihr Vater die Zwillinge jedes Jahr mit nach London genommen, wo
sie eine Zeit lang in dem Haus in Chelsea gewohnt hatten. Sie waren jung, die
Zeit hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihnen auf so unterschiedliche Weise
ihren Stempel aufzudrücken, noch glichen sie sich äußerlich wie innerlich und
wurden enstprechend von den anderen behandelt. Aber wenn sie sich in London
aufhielten, hatte Saffy jedes Mal tief in ihrem Innern ihr Anderssein gespürt.
Während Percy sich wie ihr Vater nach den ausgedehnten Wäldern von Milderhurst
sehnte, fühlte Saffy sich von der Stadt inspiriert.
Hinter ihr
ertönte fernes Donnergrollen, und Saffy stöhnte. Sie wollte sich nicht umdrehen
und die schwarzen Wolken sehen, die sich am Himmel zusammenzogen. Von allen
Entbehrungen, die der Krieg mit sich brachte, war das Fehlen der regelmäßigen
Wettervorhersage im Radio besonders schwer zu ertragen. Dass sie weitgehend auf
ihr Lesevergnügen verzichten musste, hatte sie gelassen hingenommen und sich
damit abgefunden, dass Percy ihr aus der Bücherei nur noch ein Buch pro Woche
mitbrachte anstatt der üblichen vier. Dass sie ihre Seidenkleider gegen
praktische Trägerröcke eintauschen musste, darüber hatte sie nur gelacht. Als
die Bediensteten sie verlassen hatten wie die sprichwörtlichen Ratten das
sinkende Schiff und sie die Rollen der Oberköchin, Putzfrau, Waschfrau und des
Gärtners in Personalunion hatte übernehmen müssen, war ihr das nicht
schwergefallen. Aber die Launen des englischen Wetters zu durchschauen, damit
war sie einfach überfordert. Obwohl sie schon ihr Leben lang in Kent lebte,
fehlte ihr der Instinkt der Landfrau für das Wetter: Immer wieder geschah es,
dass sie ausgerechnet an Tagen, an denen Regen in der Luft lag, Wäsche zum
Trocknen aufhängte oder sich in die Gartenarbeit stürzte.
Saffy ging
schneller, beinahe im Laufschritt, bemüht, den Geruch des Zwiebellaubs zu
ignorieren, der mit jedem ihrer Schritte intensiver zu werden schien. Eins
stand jetzt schon fest: Wenn der Krieg vorüber war, würde sie das Landleben
endgültig hinter sich lassen. Percy wusste noch nichts davon, man musste den
rechten Moment abpassen, um eine solche Neuigkeit zu verkünden, aber Saffy
würde nach London gehen. Dort würde sie sich eine kleine Wohnung suchen, für
sich allein. Sie besaß keine eigenen Möbel, aber das stellte kein Hindernis
dar; in solchen Dingen vertraute Saffy auf die Vorsehung. Es stand jedoch
außer Frage, dass sie nichts von Milderhurst mitnehmen würde. Sie würde sich
komplett neu einrichten; es wäre ein Neuanfang, fast zwanzig Jahre später als
geplant, aber daran ließ sich nichts ändern. Sie war jetzt älter, zäher, und
diesmal würde sie sich nicht aufhalten lassen, egal, was sich ihr in den Weg
stellen würde.
Zwar waren
ihre Pläne ein wohlgehütetes Geheimnis, aber sie hatte sich angewöhnt, jeden
Samstag die Vermietungsanzeigen in der Times zu lesen,
um sofort handeln zu können, sobald sich eine Gelegenheit bot. Anfangs hatte
sie Chelsea und Kensington in Erwägung gezogen, sich jedoch dann für eines der
georgianischen Viertel von Bloomsbury entschieden, die in Fußnähe zum British
Museum und den Läden in der Oxford Street lagen. Sie hoffte, dass Juniper
ebenfalls in London bleiben und in ihrer Nähe wohnen würde, und Percy würde
natürlich hin und wieder zu Besuch kommen. Aber ihre Zwillingsschwester würde
nie länger als eine Nacht bleiben, da sie größten Wert darauf legte, im eigenen
Bett zu schlafen und das Schloss notfalls eigenhändig zu stützen, falls es
zusammenzufallen drohte.
In
Gedanken war Saffy häufig in ihrer kleinen Wohnung, vor allem, wenn Percy mal
wieder durch die Flure des Schlosses stampfte, über die abblätternde Farbe und
die durchhängenden Balken schimpfte und jeden neuen Riss in den Wänden beklagte.
Dann schloss Saffy die Augen und öffnete die Tür zu ihrer eigenen Wohnung. Sie
wäre klein und schlicht und sehr sauber - dafür würde sie schon sorgen -, und
es würde nach Bienenwachs und Essig duften. Saffy ballte die Hand mit dem
Zwiebelgrün zur Faust und ging noch schneller.
Ein
Schreibtisch unter dem Fenster, darauf in der Mitte ihre
Olivetti-Schreibmaschine und an einer
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