Moskauer Diva
die Kasse zu bekommen, werden wir mehrere Gedenkabende für Smaragdow veranstalten. Beim ersten werden seine Verehrerinnen den Saal füllen, sie werden eigens aus Petersburg anreisen. Selbstmord ist heutzutage in Mode. Wenn wir Glück haben, legt irgendein Dummchen Hand an sich, um seinem Idol zu folgen. Dann werden wir auch ihr einen Gedenkabend widmen.«
»Das ist doch schrecklich«, flüsterte Prostakow. »Wie kann man solche Berechnungen anstellen!«
»Ein ungeheuerlicher Zynismus!«, pflichtete die wegen der angedrohten Strafe beleidigte Grande Dame ihm bei.
Elisa aber dachte: Stern ist kein Zyniker, für ihn ist das Lebenundenkbar ohne das Theater, und das Theater ist undenkbar ohne Effekte. Das Leben ist Kulisse, der Tod ist Kulisse. Er ist genau wie ich: Auch er möchte auf der Bühne sterben, unter dem Beifall und Schluchzen des Publikums.
»Das ist alles wunderbar«, brummte Rasumowski, »aber wer soll nun den Lopachin übernehmen?«
Der Regisseur hatte eine Antwort parat: »Ich werde jemanden von außen suchen. Vielleicht kann ich Ljonja Leonidow zu einer zeitweiligen Zusammenarbeit überreden, aus Solidarität mit unserem Unglück. Die Rolle kennt er, andere Akzente zu setzen ist für einen Schauspieler seines Formats eine Kleinigkeit. Und für die Proben wird einstweilen Dewjatkin einspringen. Sie kennen doch den Text, George?«
Der Assistent nickte eifrig.
»Na ausgezeichnet. Simeonow-Pistschik und den Passanten spiele ich selbst. Und den Bahnhofsvorsteher können wir ganz streichen, er sagt bei Tschechow kein einziges Wort. So, wir fangen gleich an. Bitte schlagen Sie alle Ihren Text auf.«
In diesem Augenblick quietschte die Tür (sie saßen im Künstlerfoyer).
»Wer ist das jetzt noch?«, sagte Noah Nojewitsch gereizt, denn er konnte es nicht ausstehen, wenn während der Probe oder einer Besprechung Fremde auftauchten.
»Ach, Sie sind es, Herr Fandorin!« Das hagere Gesicht des Regisseurs wechselte augenblicklich den Ausdruck und erstrahlte in einem charmanten Lächeln. »Ich hatte schon nicht mehr gehofft …«
Alle drehten sich um.
In der Tür, einen grauen englischen Zylinder in der Hand, stand der Kandidat für den Posten des Dramaturgen.
Die Spannungs-Theorie
»Noah Nojewitsch, man sagte mir am Telefon, S-sie seien hier«, sagte er leicht stotternd. »Ich versichere Ihnen mein Beileid und bitte um Verzeihung, dass ich Sie an diesem t-traurigen Tag belästige, aber …«
»Haben Sie Neuigkeiten für mich?«, fragte der Regisseur lebhaft. »Kommen Sie doch herein, kommen Sie!«
»Ja … Das heißt, nein. Nicht in dieser Hinsicht, aber in anderer, etwas überraschender …«
Der Eingetretene trug eine Ledermappe unterm Arm. Bescheiden verbeugte er sich vor den Anwesenden.
Elisa nickte kühl, wandte sich ab und dachte: Wie ungeschickt er Verlegenheit spielt. Dieses Gefühl dürfte er kaum kennen. Gestern, in einer weit heikleren Situation, hat er nicht verlegen gewirkt.
Gestern war Elisa vollkommen außer sich gewesen. Sie schluchzte, bebte, wie von Nervenfieber geschüttelt, und fand keine Ruhe. Und am späten Abend folgte sie einer plötzlichen Anwandlung und eilte ins Theater. Mit einem riesigen Strauß schwarzer Rosen. Sie wollte als Zeichen der Reue und des Gedenkens die Blumen dort niederlegen, wo der Mann gestorben war, den sie so wenig gemocht und den sie, ohne es zu wollen, zugrunde gerichtet hatte.
Die Tür des Bühneneingangs hatte sie selbst geöffnet. Nach Noah Nojewitschs Ansicht sollte das Theater das zweite, wenn nicht das erste Zuhause des Schauspielers sein, darum besaß jedes Mitglied der Truppe einen eigenen Schlüssel. Der Nachtwächter war nicht an seinem Platz, doch das beachtete Elisa nicht weiter. Sie ging hinauf in die Etage, wo die Garderoben lagen, lief den langen, dunklen Flur entlang und atmete den Duft der Rosen ein. Sie bog um die Ecke – und erstarrte.
Smaragdows Tür stand weit offen. Drinnen brannte Licht, und Stimmen drangen heraus.
»Sind Sie sicher, d-dass er hierblieb, als alle anderen gegangen waren?«, fragte jemand. Dieses Stottern kam ihr bekannt vor.
Der Nachtwächter antwortete: »Warum sollte ich lügen? Vorgestern haben sie den ›Hamlet‹ gegeben, ein gefühlvolles Stück. Nach der Vorstelllung haben die Herrschaften getrunken und gelärmt. Nun, das tun sie immer. Dann gingen sie auseinander. Aber Herr Smaragdow blieb hier. Ich schaute herein, weil ich dachte, er hätte wieder einmal das Licht brennen lassen. Aber er sagte
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