Moskito
wir gerade von der WHO sprechen – haben Sie die Gerüchte über Farlow gehört? Nein, natürlich nicht. Sie gehen ja seit drei Tagen nicht in die Nähe des übrigen Teams.«
»Ich war draußen an der Arbeit!« protestierte Melanie. »Und sobald wir dieses ekelhafte Mittagessen beenden, werde ich mich umziehen und zum nächsten Besuch aufbrechen. Was ist mit Farlow?«
»Befördert. Zur Nummer Zwei bei der WHO.«
»In die Schweiz? Glauben Sie, wird er akzeptieren?«
»Würden Sie nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie langsam. »Das ist natürlich eine tolle Sache, aber unter den gegebenen Umständen, bei all den ungelösten Fragen betreffend AIDS, Ebola …«
»O Gott! Nicht auch noch Ebola, Mel! Ebola ist keine künstlich geschaffene Krankheit! Es gibt Aufzeichnungen über Ausbrüche, die bis ins antike Athen zurückgehen, und …«
»Aus alten Aufzeichnungen kann man nicht sicher schließen, um welche Krankheiten es sich tatsächlich gehandelt hat, und das wissen Sie. Die Menschen früher waren doch ahnungslos! Meine Güte, vor hundert Jahren glaubten sogar die Ärzte noch, daß Malaria von ›schlechter Luft‹ verursacht wurde, wie der Name sagt!«
Sie hatte die Stimme erhoben, und die Leute am Nachbartisch drehten sich um und starrten herüber. Ja, mehr noch – sie preßten ihre blöden Hinterwäldlerlippen zusammen und sahen von ihr zu Joe und schoben empört das Kinn vor. Schafsköpfe. Käsegesichter. Melanie starrte böse zurück.
»Melanie«, sagte Joe mit leiser, ruhiger Stimme, »Sie verlieren die Beherrschung.«
»Heißen Dank, Doktor Krovetz!«
»Im Ernst, Mel. Sie müssen sich ein bißchen abkühlen, sonst geschieht noch was.«
»Ach ja? Und was? Ein kleiner Zusammenstoß mit der Wahrheit? Entschuldigen Sie mich jetzt. Ich habe zu tun.« Plötzlich hielt sie es keine Sekunde länger bei McDonald’s aus. »Schlechte Luft.« Sie mußte raus, um wieder atmen zu können. Sie stand so abrupt auf, daß ihr Stuhl umfiel, marschierte über die Straße und zog die Trauerkleidung samt Hut für die nächste objektiv-wissenschaftliche epidemiologische Befragung an.
Nach dem Gespräch in Faulkner, Distrikt Charles County, ging sie langsam zu ihrem Wagen zurück. Der Himmel war bedeckt; die Feuchtigkeit mußte nahezu hundert Prozent betragen. Als sie im Wagen saß, stellte sie zuerst die Klimaanlage an, dann zog sie den Rock des Kleides hoch und schälte sich die Strumpfhose von den Beinen. Die hochhackigen Schuhe warf sie auf den Rücksitz und schlüpfte in Sandalen. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er in einem Schraubstock stecken.
Es war jedesmal noch schlimmer als sonst, wenn es sich um ein Kind handelte. Ein fröhlich grinsender kleiner Kobold. Die Mutter hatte darauf bestanden, Melanie ein ganzes Fotoalbum voller Bilder zu zeigen, als hätte ihr das den kleinen Jungen zurückbringen können. Tot mit vier Jahren.
Und doch hatte Melanie schon zuvor tote Vierjährige gesehen – Hunderte, bei ihren Reisen nach Afrika als Mitglied von Seuchenforscherteams. Vierjährige, die an der Malaria gestorben waren, an Typhus, an Dengue-Fieber – an all den schrecklichen Dingen, die Afrika heimsuchten, egal, was man dagegen unternahm. Auch diese toten Vierjährigen hatten Melanie traurig gemacht, aber nicht so wie dies hier. Und warum nicht? War es am Ende die roheste Form von Nationalismus?
Nein. Der Grund dafür war, daß sie – ungeachtet dessen, was sie beim Mittagessen zu Joe gesagt hatte – die afrikanischen Epidemien für natürlichen Ursprungs hielt. Herzzerreißend, himmelschreiend, verschlimmert durch abgestumpfte politische Dummheit – aber eben natürlichen Ursprungs. Nicht hervorgerufen von menschlicher Bösartigkeit, wie dies hier. Und so handelte es sich beim Tod dieses Vierjährigen durch einen von Malaria verursachten Gehirnschlag auch bei sinkender Todesrate – dies war Melanies erster Fall diese Woche, und es war schon Mittwoch – um Mord in all der widerwärtigen Scheußlichkeit, die der Tötung eines Kindes innewohnt.
Melanie mußte einen Blick auf Michael Sean Donohue werfen. Auch wenn er es nicht getan hatte. Sie mußte ihn einfach sehen. In einer Stunde war eine Zusammenkunft des ganzen Teams angesetzt, aber Melanie würde sie schwänzen. Dabei würde vermutlich ohnehin nicht mehr zur Sprache kommen als die Verlautbarung von Farlows Umzug in die Schweiz – da nunmehr ja die Epidemie im Ausklingen war und das FBI ihren Verursacher in sicherem Gewahrsam hatte, von wo
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