Mount Maroon
Aber dann wiederum hätte er auch gewusst, dass sie sich über jede Gesellschaft freute und gerne auch den Kaffee dazu anbot.
- „Womit kann ich den Herren helfen?“
Peter starrte sie an. Sie erkannte ihn nicht, genau wie Ellen. Das konnte doch nicht wahr sein.
Er fing sich schließlich und eingedenk ihres schwachen Herzens wollte er ihr den tatsächlichen Grund ihres Besuches nicht zumuten. Er musste improvisieren.
- „Madam, das ist Dr. Mason und mein Name ist Hudson …“
Eingehend beobachtete er ihren Gesichtsausdruck. Hatte Ellens Mädchenname eine Veränderung bewirkt? Eher nicht.
- „Wir führen eine wissenschaftliche Untersuchung über die Veränderung von Sicherheitskonzepten im Straßenverkehr durch. Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit tödlichen Verkehrsunfällen in den letzten 50 Jahren. Es gibt Unterlagen darüber, dass bei einem Autounfall 1975 auch einige ihrer Familienangehörigen ums Leben kamen. Stimmt das?“
- „Ach du meine Güte, das ist schon so lange her. Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen da helfen kann. Aber kommen Sie doch erstmal rein. Wir können uns hinter dem Haus auf die Veranda setzten und zusammen einen Eistee trinken.“
Mrs. Elderigde hatte das gute Geschirr herausgeholt, Tee eingeschenkt und in der Mikrowelle einen Erdbeerkuchen aufgetaut. Peter blickte sich um, wie man sich in seinem Elternhaus umblickt, dass man nach Jahren wiedersieht und in dem die Zeit seit dem letzten Besuch oder vielleicht sogar seit der eigenen Kindheit eingefroren war, die Lebendigkeit der Jugend konserviert wurde. Eine Zeitreise, bei der die verschütteten Gedanken zu neuem Leben erweckt werden, angereichert durch die Erzählungen der Beteiligten, der Eltern, Geschwister und Freunde. Nur bei genauerer Betrachtung nimmt man die Veränderungen wahr, die einem dann als Verfall erscheinen, als Verlust von etwas Kostbarem. Auch hier gab es diese Veränderungen. Die Farbe an der Hauswand blätterte ab, der Zaun war verwittert, teilweise umgefallen. Im hinteren Bereich des Hofes stand der alte, verrostete Pick-up seines Onkels.
- „Ah, ich sehe, Sie begutachten meinen Wagen“, bemerkte die ältere Dame und lachte hell auf. „Seitdem mein Mann tot ist, betrachten wir ihn als Gemeinschaftsbesitz. Der Schlüssel steckt und jeder, der ihn gerade braucht, benutzt ihn. Aber wenn die Jungs der Nachbarn damit auch weiterhin ihre holprigen Wege fahren, wird er wohl bald auseinanderfallen. Kommen Sie von der Universität?“
- „Ja, Madam, vom Joseph-College in Princewater.“ Mason spielte hervorragend mit: „Es geht uns darum, die Geschichte von Unfällen aus Sicht von Beteiligten zu hören und damit an Informationen zu kommen, die möglicherweise nicht im Polizeibericht stehen. Wissen Sie, Angehörige geben oftmals wichtige Details nicht zu Protokoll, weil es ihnen nicht von Belang erscheint, zum Beispiel: wie häufig jemand auf einer bestimmten Strecke unterwegs war, ob er die Gefahrenpunkte kannte oder vielleicht generell sehr schnell fuhr.“
- „Genau, wir wissen bislang nur, dass am Morgen des 18. Juni 1975 die Familie Saunders auf der Landstraße in der Nähe von Eddyville verunglückt ist. Ihr Bruder und Ihre Schwägerin kamen dabei ums Leben …“
- „Und mein kleiner Neffe Peter. Der war auch dabei. Es war schrecklich.“
Peter wurde blass. Er hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen, entschuldigte sich und lief ins Bad. Mrs. Elderigde, die sah, was mit ihm passierte, rief ihm unnötigerweise die Wegbeschreibung hinterher. Peter sah in den Spiegel, sah in seine großen dunkelbraunen Augen, die ihm so vertraut waren. Man sagt, die Augen eines Menschen bleiben ein Leben lang gleich. Man sollte die gute Polly vielleicht nach Photos fragen. Aber was sind braune Augen schon für ein Anhaltspunkt. Sie kannte ihn nicht. Sie hatte ihren Bruder und seine Familie vor mehr als 30 Jahren begraben, hatte getrauert, sich mit dem Schicksal abgefunden und ihr eigenes beschauliches Leben geführt. Ob sie wohl das Grab pflegte, so wie in Peters glasklarer Erinnerung? Woher stammten all diese Gedächtnisinhalte, jede Kleinigkeit war präsent und daneben gab es nichts, keinerlei Bilder oder Fakten aus einem anderen Leben. Nach einer Weile trat er wieder zu den beiden auf die Terrasse. Rooster stand auf und legte seinen flauschigen Kopf an Peters Oberschenkel.
- „Junger Mann, vielleicht ist das nicht der richtige Beruf für Sie. Ich meine, wenn Ihnen das so nahe geht.“
Mason
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