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Mr Monster

Mr Monster

Titel: Mr Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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verdienten, hatten ihre ganz eigene Art und Weise, damit umzugehen. Mein Dad brachte damit seinen Respekt vor den Toten zum Ausdruck, es war eine Ehrung, die man den Toten im Rückblick auf ihr Leben erwies. Für meine Mom war es ein Dienst am Nächsten – sie konnte Stunden damit verbringen, jemanden zu unterstützen, der wirklich hilflos war, und noch mehr Zeit dafür aufwenden, mit der Familie zusammen die Bestattungszeremonie und die Andacht zu planen. Beide betrachteten das Einbalsamieren als eine wichtige Tätigkeit, der sie beinahe verehrungsvoll nachgingen. Die Achtung vor den Toten hatte sie zusammengebracht.
    Für mich war das Einbalsamieren eine Form der Meditation. Es erzeugte in mir einen Frieden, den ich sonst nie und nirgends fand. Ich genoss die Ruhe und Stille. Die Toten rührten sich nicht und brüllten nicht, sie stritten sich nicht mit mir und gingen nicht weg. Die Toten lagen einfach nur da, im Frieden mit sich und der Welt, und ließen mich tun, was immer ich tun wollte. Endlich hatte ich mich völlig in der Gewalt.
    Auch über sie hatte ich die Kontrolle.
    Während ich die Haare ausbürstete, schnitt Mom den Krankenhauskittel ab und bedeckte die Blößen mit einem Handtuch. Sie wusch der Toten die Arme und den Rumpf, und als ich mit den Haaren fertig war, holte ich einen Rasierapparat. Wir rasierten allen Toten das Gesicht, egal, wie alt sie waren und welchem Geschlecht sie angehörten, denn selbst Frauen und Kinder hatten hier und dort ein paar Haare. Ich verteilte einen Klecks Rasiercreme auf den Wangen und der Oberlippe und schabte vorsichtig mit der Klinge darüber.
    Nach einer Weile setzte ich den Rasierapparat ab. »Ich bin so weit fertig«, sagte ich. »Wollen wir es jetzt im Gesicht herrichten?«
    »Sie«, ermahnte mich Mom.
    »Sie«, wiederholte ich.
    »Es ist doch jedes Mal das Gleiche, John. Du musst daran denken, dass es Menschen und keine Objekte sind. Gerade du musst daran denken.«
    »Es tut mir leid.« Ich räumte das Rasierzeug weg.
    »Schau mich an, John.« Ich drehte mich zu ihr um. »Ich meine es ernst.«
    »Es tut mir leid«, wiederholte ich. » Sie . Wir wollen ihr das Gesicht herrichten.«
    »Pass auf, dass das nicht noch einmal passiert.« Ich nickte.
    Sie war erst vor Kurzem gestorben, und deshalb war die Leichenstarre noch nicht aus ihrem Körper gewichen. Bevor wir ihr das Gesicht herrichten konnten, mussten wir ihr den Körper massieren, damit er wieder beweglich wurde. Die Leichenstarre war die natürliche Folge einer Zunahme des Calciums in den Muskeln. Ein lebender Körper benutzte das Calcium für alle möglichen Zwecke, doch bei Toten konzentrierte es sich immer weiter, bis die Muskeln steif wurden. Nach einem Tag oder etwas später setzte dann der Verfall ein, und die Muskeln entspannten sich wieder. Jetzt aber mussten wir das Calcium mit den Händen vertreiben, indem wir über den Körper strichen, ihn kneteten und rieben, bis er weich und nachgiebig wurde.
    Als wir dann mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnten, nahmen wir uns zunächst das Gesicht vor. Wir brachten den Kopf in die richtige Lage, schlossen den Mund und so weiter. Unter die Augenlider schoben wir Wattebäusche, damit sie nicht so eingefallen wirkten, und dann verklebten wir sie mit einer Salbe. Außerdem brachten wir im Zahnfleisch zwei kleine Haken an, einen hinter der Oberlippe und einen am Unterkiefer. So konnten wir den Mund mit einem dünnen schwarzen Faden zusammenbinden. Man musste die Haken sorgfältig setzen und den Faden gerade weit genug anziehen: nicht zu locker, damit der Mund nicht wieder aufklappte, und nicht zu fest, weil sonst die Nase verkniffen und unnatürlich wirkte. Die Angehörigen waren nicht erbaut, wenn ihre tote Großmutter höhnisch aus dem Sarg starrte.
    Als das Gesicht fertig war, begannen wir mit der ersten Phase der inneren Prozesse, mit dem arteriellen Einbalsamieren. Mom suchte die passenden Chemikalien zusammen und mischte sie im Behälter der Pumpe, und ich nahm hinter dem Schlüsselbein der Leiche einen kleinen Einschnitt vor. Mit einem stumpfen Haken zog ich zwei glitschige purpurfarbene Blutgefäße heraus. Jede Ader war so dick wie ein Finger. Vorsichtig, um sie nicht zu zerstören, schlitzte ich sie auf. Da das Herz nicht mehr schlug, gab es keinen Blutdruck mehr, und aus den Öffnungen trat kein Blut aus. In die geöffneten Blutgefäße – eine Arterie und eine Vene – schob ich je eine Kanüle, und den Anschluss der Arterie verband ich wiederum

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