Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Nummer eins und Jean für Vater Nummer drei.
Als Loretta ihr Kind zum ersten Mal in die Arme gelegt bekam, bemerkte sie den schiefen, halb lächelnden Mund und die mandelförmigen, bereits ganz geöffneten Augen, die außen leicht nach oben zeigten wie bei einem Ägypter. Loretta erkannte dieses Gesicht sofort und sagte sich: »Verfluchter Mist. Es war also Nummer vier.« Dann wandte sie sich an Mrs Handy und sagte: »Haben Sie Whiskey?«
An einem Septembermorgen vierzehn Jahre später las Miss Carmel Barbara Jeans Namen laut von der Liste der neunten Klasse vor. Nachdem sie ihr Klemmbrett auf dem Pult abgelegt hatte, ging Miss Carmel zu Barbara Jean und sprach zum ersten Mal die Worte aus, mit denen im Laufe der nächsten vierzig Jahre die meisten ihrer Begegnungen beginnen würden: »Kleines, wusstest du, dass du auf meinem Kanapee geboren wurdest?«
Nachdem Barbara Jean Lester geheiratet hatte und sein Geschäft florierte, stand ein Großteil der Stadt Schlange und küsste ihr den Hintern, um sich bei Lester beliebt zu machen. Aber Carmel Handy begrüßte sie weiterhin auf dieselbe Weise. Barbara Jean nahm an, dass das für Miss Carmels guten Charakter sprach. Der Wohlstand, zu dem sie es gebracht hatte, hatte das Verhalten, das ihre frühere Lehrerin ihr gegenüber an den Tag legte, kein bisschen verändert. Aber sie hasste sie trotzdem dafür. Sie schämte sich zwar, es sich einzugestehen, aber Barbara Jean war erleichtert, als Miss Carmel sich jenseits der achtzig angewöhnte, jeder farbigen Frau, die ungefähr in Barbara Jeans Alter war und ihren Weg kreuzte, zu erzählen, dass sie auf ihrem Kanapee geboren worden sei. Irgendwann verband man die Legende von dem Baby, das in ihrem Wohnzimmer zur Welt kam, so sehr mit Miss Carmels durchlässig gewordenen Gehirn, dass beinahe jeder vergaß, dass die Geschichte auf echten Tatsachen beruhte. Oder auch nur irgendetwas mit Barbara Jean zu tun hatte.
Die Häuser in Carmel Handys Straße gehörten zu den ersten, die abgerissen wurden, als Bauunternehmer und die Universität in den 1980er und 90er Jahren einen Großteil von Leaning Tree aufkauften. An dem Tag als sie den kleinen Backstein-Bungalow wegschoben, fuhr Barbara Jean hinüber in Miss Carmels Straße und trank auf dem Fahrersitz ihres neuen Mercedes Champagner.
Als sie nun im All-You-Can-Eat inmitten eines wachsenden Kreises über Big Earls Dahinscheiden Trauender stand, hörte Barbara Jean, wie Carmel Handy sie wieder einmal an ihre niedere Herkunft erinnerte. Da dachte Barbara Jean an den Geschmack des Champagners, den sie an jenem Tag in ihrem Wagen genippt hatte, während sie zusah, wie die Bauarbeiter Miss Carmels Haus dem Erdboden gleichmachten. Und diese köstliche Erinnerung hielt sie davon ab, laut loszuschreien.
7
In der Nacht vor Big Earls Beerdigung träumte Barbara Jean, dass Lester und sie an einem kühlen Herbsttag eine ausgefahrene Schotterpiste entlanggingen. Sie atmeten weiße Wolken aus, während rostrote, gelbe und braune Blätter um sie herumwirbelten, als befänden sie sich mitten im Auge eines Sturms. Wegen dieses Wirbelwinds aus Blättern war es Barbara Jean kaum möglich, den Weg, der vor ihnen lag, zu erkennen. Sie hielt sich an Lesters Arm fest, damit sie in den Fahrrillen der Straße nicht umknickte. Selbst in ihren Träumen trug sie immer hohe Absätze.
Nach einer Weile legte sich der Blättersturm so weit, dass sie einen Fluss vor sich sehen konnte. Vom anderen Ufer winkte ihnen ein kleiner Junge zu. Dann, als sie gerade die Arme hoben, um zurückzuwinken, schwebte eine Frau in einem silbrig schillernden Kleid über ihren Köpfen zu ihnen. Die Frau sagte: »Lester, das Wasser ist gefroren. Geh einfach rüber, und hol ihn. Er wartet.« Aber in dem Traum war es November oder Dezember, und der Fluss war ganz offensichtlich nur halb zugefroren. Barbara Jean konnte das Plätschern und Schäumen direkt unter der brüchigen Eisschicht an der Oberfläche erkennen. Sie grub ihre Finger in den rauen Stoff des Wintermantels ihres Mannes, um ihn davon abzuhalten, den Fluss zu betreten. Als Lesters Ärmel sich ihrem Griff entzog, erwachte Barbara Jean mit rasendem Puls, und ihre Arme tasteten nach Lester.
Sie hatte diesen Traum, oder nahezu den gleichen, schon seit Jahren. Manchmal war es darin Frühling oder Sommer, und anstatt einer gefährlich dünnen Eisschicht war es eine altersschwache Seilbrücke mit morschen Holzplanken, die über das Wasser führte. Aber sie träumte immer von
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