Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
genau wussten, von welchem Turm er sprach.
Der Turm war alles, was noch von einem früheren Sanatorium für Tuberkulosekranke übrig war, das sich einmal dort erstreckt hatte, wo heute das Krankenhaus stand. Die T B -Patienten waren dorthin verlegt worden, um eine Frischluftkur zu machen. Der Turm war fünf Stockwerke hoch und stand auf einer Anhöhe am Rande des Campusgeländes. Er war beinahe von jedem Blickwinkel der Stadt aus zu sehen. Nun erforschte Chick, der Junge der immer voller Federn gewesen war, dort Vögel.
»Ihr solltet euch unbedingt einmal ansehen, was die Universität daraus gemacht hat«, sagte er. »Die Anlage ist unglaublich. Zweimal so groß wie der Platz, den ich in Oregon zur Verfügung hatte.«
»Oregon?«, sagte Odette. »Ich dachte, du seist nach Florida zum Studieren gegangen?«
»Das bin ich auch, aber ich hab es nicht wirklich lang dort ausgehalten. Zu heiß für meinen Geschmack. Nach einem Jahr wechselte ich in ein Graduiertenprogramm nach Oregon. Die Hochschule bot mir einen Job als Lehrer an, nachdem ich meinen Abschluss gemacht hatte, also blieb ich schließlich dort hängen, bis ich hierher zurückgekehrt bin.«
Odette, die sich niemals scheute, Informationen zu bekommen, nahm ihn weiter in die Mangel. Ein paar Minuten später hatte sie herausgefunden, dass Chick seit letztem Sommer wieder in Plainview lebte, zweimal verheiratet und geschieden war, aber aus keiner der beiden Ehen Kinder hatte, und nun in einem der neuen Häuser in Leaning Tree wohnte.
Chick merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Seit dem Tag, an dem er den Job angenommen hatte, der bedeutete, dass er in seine Heimatstadt zurückkehren würde, hatte er darüber nachgedacht, was er sagen würde, wenn er den Supremes über den Weg liefe. Er hatte sich eine kleine Rede zurechtgelegt, ein paar Sätze über sein Leben im Nordwesten, gefolgt von einer kurzen Beschreibung der Arbeit, die ihn wieder zurück nach Plainview gebracht hatte. Aber er hatte sich vorgestellt, seinen umsichtig einstudierten Text vor den Supremes in der geschützten Umgebung eines Lebensmittelladens zu rezitieren, der voll mit zerstreuten, schwatzenden Kunden wäre. Oder an einer geschäftigen Straßenecke. Nun, aufgrund einer Zufallsbegegnung mit seinem alten Kumpel James heute früh befand er sich in der unangenehmen Lage, sich durch eine gehudelte Version seiner kleinen Ansprache zu wursteln. Und das in einem Krankenhauszimmer, dessen Wände mit jeder verstreichenden Sekunde näher auf ihn zuzurücken schienen. Er war hoffnungslos aus dem Konzept gebracht worden durch Odettes Fragen, diesen Ort und die Anwesenheit von Barbara Jean. Sie war auch nach all der Zeit, die sich wie eine Million Jahre und gleichzeitig wie gestern anfühlte, noch immer so schön, dass es wehtat.
Chick wich von seinem vorbereiteten Vortrag ab und redete immer schneller. Stockwerk für Stockwerk beschrieb er die hochmoderne tiermedizinische Einrichtung, die nun im Turm untergebracht war. Er erzählte ihnen von den beiden Graduiertenkursen, die er an der Universität gab, und dass er seine wissenschaftlichen Mitarbeiter für das Greifvogelprojekt aus den intelligentesten der Studenten rekrutierte. Ausführlich beschrieb er die Pläne, irgendwann nächsten Sommer das erste brütende Falkenpaar freizulassen. Nachdem er die Namen aller acht Vögel des Projekts aufgezählt und die Geschichte erzählt hatte, wie die Namen ausgewählt worden waren, merkte er, dass er zehn Minuten am Stück geredet hatte, und unterbrach sich. Er sagte: »Tut mir leid. Wenn ich anfange, über mein Projekt zu reden, kann ich nicht mehr aufhören.«
»Kein Grund sich zu entschuldigen«, erwiderte Odette. »Es ist schön, zu hören, dass du deine Arbeit magst.« Dann lachte sie. »Aber sag mal, Chick, was ist das nur mit dir und den Vögeln?«
Er grinste, stopfte dann seine Hände in die Manteltaschen und zuckte mit den Schultern. Für einen Moment war er wieder der schüchterne, hübsche Junge, den sie fast vier Jahrzehnte zuvor kennengelernt hatten.
Ein paar Sekunden lang sagte keiner etwas. Barbara Jean, Odette und Clarice räusperten sich und zappelten ein wenig herum. Chick stand da und starrte zu Boden. Es war offenkundig, dass er bloß ein paar Sätze für dieses Zusammentreffen vorbereitet hatte, und nachdem diese erschöpft waren und er ihnen noch etwas nervöses Gefasel hinterhergeschickt hatte, hatte er keinen weiteren Gesprächsstoff übrig.
Barbara Jean füllte das Schweigen mit
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