Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
nach Forrest Paynes Anruf nur schnell übergezogen hatte, um ihre Mutter zu holen. Beatrice runzelte die Stirn, als sie den Aufzug ihrer Tochter betrachtete. Sie sagte: »Ich fasse es nicht, dass du es zulässt, so in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Diese Leute hier mögen zwar die niedrigsten unter Gottes Kreaturen sein, aber das heißt nicht, dass sie nicht tratschen.«
Clarice murmelte leise vor sich hin: »Ich liebe meine Mutter. Ich liebe meine Mutter.« Sie wusste, dass sie sich in den nächsten Tagen wohl noch oft daran erinnern musste. Dieses Weihnachten würde hart werden, mit Odette, die krank war, Barbara Jean, die praktisch im Wachkoma herumlief, und Richmond, der sich mehr denn je wie Richmond aufführte. Sie war wirklich nicht in der Stimmung, um zu ertragen, dass ihre Mutter jetzt auch noch ihre ganz speziellen Schrullen mit auf den Stapel packte. Clarice dachte ernsthaft darüber nach, in den Pinken Pantoffel zu marschieren und Forrest Payne davon zu überzeugen, dass er Beatrice wegen unbefugten Betretens und Ruhestörung verhaften ließ. Soll sich doch das Bezirksgericht über die Feiertage mit ihr rumschlagen. Das würde ihr recht geschehen.
Clarice umarmte ihre Mutter und sagte: »Fröhliche Weihnachten.«
Am nächsten Morgen, als sie Frühstück machte, diskutierte Clarice mit ihrer Mutter den Tagesplan. Sie hatte verschiedene Dinge auf die Liste gesetzt: Friseurtermine für sie beide, Besuche bei alten Freunden der Familie, Einkaufsausflüge für Last-Minute-Geschenke und eine Fahrt zum Lebensmittelgeschäft für das Essen, das sie für Clarices Kinder und deren Familien vorbereiten mussten. Außerdem gab es über die Feiertage allerlei Veranstaltungen in der Calvary-Baptist-Kirche, falls mehr nötig sein würde, um Beatrice zu beschäftigen. Es war wichtig, dass ihre Mutter immer etwas zu tun hatte. Denn wenn sie sich selbst überlassen war, fingen ganz schnell ihre Finger an zu jucken, und sie griff nach dem Megafon.
Die Dinge würden einfacher werden, sobald am Tag darauf die Kinder ankämen. Ricky verbrachte die Feiertage dieses Jahr bei der Familie seiner Frau, aber Clarices und Richmonds andere Kinder kamen zu Besuch. Abe brachte eine neue Freundin mit, damit seine Großmutter sie ausgiebig befragen und missbilligen konnte. Carl hatte sicher dutzende Bilder dabei, die er Beatrice zeigen konnte, von dem letzten exotischen Urlaubsort, an den er seine Frau mitgenommen hatte als Sühne für seine neueste Verfehlung. Auf Carolyns vierjährigen Sohn Esai, der Clarices musikalische Veranlagung geerbt hatte, war insofern Verlass, als dass er seine Urgroßmutter stundenlang mit Singen und Tanzen beschäftigen konnte. Gott segne ihn. Dieses Kind schaffte es, sie, wenn es nötig war, den ganzen Tag bei Laune zu halten.
Beatrice trug dunkelroten Lippenstift, der einen leuchtenden Abdruck auf dem weißen Becher hinterließ, aus dem sie Earl Grey nippte. Sie erschien immer komplett geschminkt beim Frühstück. Clarice vergaß nie, was ihre Mutter davon hielt, wenn man, und sei es in seinem eigenen Haus, kein Make-up trug, denn sie wurde immer leicht vulgär: »Liebes, das ist genauso, als würde man die Hosen runterlassen und einen Haufen in den Springbrunnen vor dem Rathaus setzen.« Als Geste des guten Willens ihrer Mutter gegenüber und um eine weitere Verschärfung der Situation zu vermeiden, hatte auch Clarice selbst heute Morgen tunlichst darauf geachtet, Lippenstift aufzulegen.
Ihre Mutter fragte: »Was hast du denn da heute Nacht gespielt?«
Clarice entschuldigte sich dafür, sie aufgeweckt zu haben. Das Klavier befand sich eigentlich im Musikzimmer gegenüber vom Wohnzimmer, und die Schlafzimmer waren oben am anderen Ende des Hauses – außer Hörweite, wie sie gedacht hatte.
»Nein, nein, du hast mich nicht geweckt. Ich bin bloß aufgewacht und musste ins Bad, und da hab ich dich gehört. Ich hab mich eine Weile auf die Treppe gesetzt und dir beim Spielen zugehört. Es war wunderschön. Hat mich an die Zeit erinnert, als du ein junges Mädchen warst. Ich saß früher immer stundenlang auf der Treppe und hab dir beim Üben zugehört. Ich war nie stolzer auf dich, als wenn ich mein kleines Mädchen dabei beobachtete, wie sie es mit diesem großen Klavier aufnahm. Du warst wirklich talentiert.«
Ihre Mutter verteilte selten Komplimente, nicht einmal zweifelhafte. Clarice nahm sich einen Moment, um es zu genießen. Dann sagte sie: »Es war Beethoven, die Waldstein-Sonate. Seit
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