München Manhattan #1
Pistole.
Sie macht drei große, schnelle Schritte, reißt den Nachttisch auf, zieht die Pistole heraus und richtet sie auf den Vorhang.
Und jetzt? Ist die geladen? Hoffentlich nicht! Oder doch? Wie geht das denn jetzt? Ich habe in meinem Leben noch nie aus einer Waffe geschossen …
„Jetzt willst du mich erschießen, oder wie? Lass sofort das Telefon fallen, hörst du mich? Die Polizei kann dir jetzt auch nicht mehr helfen!“
Charlotte reißt mit einer blitzschnellen Bewegung den Vorhang runter, die Stange scheppert laut zu Boden. Ihre Stimme ist schrill, das Gesicht verzerrt. Der Wahnsinn, die Wut, ihr Hass blitzen aus ihren Augen. Kristin gefriert das Blut in den Adern und sie lässt das Telefon fallen.
„Ich, ich …“, ruft sie hilflos und weicht reflexartig von der angsteinflößenden Erscheinung einen Schritt zurück. Charlotte hat ihre rechte Hand erhoben, in ihr eine Schere. Sie lacht hysterisch und kommt direkt auf Kristin zu.
Die ist verrückt! Ich muss hier weg. Die will mich umbringen.
Kristins Gedanken überschlagen sich, der Horror ihrer Situation und die Gefahr, in der sie sich befindet, werden ihr auf einmal glasklar bewusst.
Sie weicht mit zwei Schritten zurück. Charlotte steht nun fast direkt vor ihr. Sie holt mit der Schere aus.
Kristin stolpert rückwärts. Sie stolpert über Charlottes Handtasche und stürzt in den Türrahmen. Ein Schuss löst sich aus der Pistole.
Panisch schreit Kristin auf. Sie kneift die Augen fest zu. Sie erwartet, jede Sekunde den Schmerz der Schere, der in ihren Körper eindringt.
Aber sie hört nur ein dumpfes Geräusch und ein unterdrücktes, dumpfes Stöhnen, während sie selber auf dem Boden aufkommt. Und dann – das Gefühl als würde ihr eine Tonne Sand den Atem abschneiden.
Was ist das? Wieso kann ich nicht atmen? Hat sie mich erstochen? Ich kann mich nicht bewegen! Was liegt auf mir drauf? Warum ist meine Bluse nass und was ist da so warm?
Kristin hört nur noch ihren eigenen Atem und zwingt sich, die Augen aufzumachen. Charlottes Kopf liegt seitlich auf ihrer Brust, ihre Augen sind weitaufgerissen wie im Schrei. Aus ihrer Kehle läuft Blut.
***
GEWISSENSBISSE
4 WOCHEN SPÄTER.
MANHATTAN. FREITAG 10 UHR
Die Grabplatte ist schlicht, ebenso wie die Inschrift. Ruhe in Frieden. Nach allem was vorgefallen ist, könnten die letzten Worte, die Bob und seine Frau an Charlotte gerichtet haben, nicht passender sein. Frieden für Charlotte. Für ein Leben, das aus den Fugen geraten war und am Ende nichts als Unfrieden gestiftet hat.
Sophie fällt es schwer, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Charlotte und sie – es verband sie viel und es entzweite sie viel. Natürlich ist durch Charlottes Tod in vielerlei Hinsicht auch in ihrem Leben wieder Frieden eingekehrt. Und doch hätte sie Charlottes Tod nie gewollt.
Ist es meine Schuld? Hätte ich es verhindern können? Hätte ich nicht so lange schweigen dürfen?
Sophie ist auf schmerzhafte Weise klar, dass das Grauen von Kristins letzter Begegnung mit Charlotte untrennbar mit ihren eigenen Entscheidungen verbunden ist. Der Horror, den sie empfand, als sie von Charlottes Tod erfuhr, wird immer ein Teil von ihr sein.
Ebenso wie sie sich selber nie ganz von einer Mitschuld freisprechen kann. Obwohl natürlich die Polizei den Fall eindeutig als Notwehr eingestuft hatte.
Ich hoffe nur, dass Kristin irgendwann diese fürchterlichen Szenen vergessen kann. Aber kann man das? Kann man vergessen, dass man ein Menschenleben genommen hat – auch, wenn es natürlich in Notwehr war?
Und Peter? Er hat die Gefahr, die von Charlotte ausging, unterschätzt. Aber ist ihm daraus ein Vorwurf zu machen? Ich hätte ihn warnen müssen. Ich hätte ihm zumindest Charlottes SMS weiterleiten müssen. Ich hätte …
Natürlich trägt er auch sein eigenes Päckchen was das alles betrifft. Charlotte hat ja nur durch ihn Eintritt in Kristins Leben erhalten.
Aber eigentlich ist es doch ganz einfach. Ich habe zwar nie jemanden mit einer Schere bedroht und ich habe auch keinen erschossen. Aber ich habe geschwiegen. Und ich wusste, zu was Charlotte fähig ist.
Und wofür? Für etwas, das jetzt für immer mein Geheimnis sein wird. Eigentlich müsste ich sehr erleichtert sein. Ich muss nie wieder Angst haben, dass Charlotte es doch ausplaudert.
Und stattdessen fühle ich mich alles andere als erleichtert. Kein Geheimnis dieser Welt ist ein Menschenleben wert. Auch nicht meins.
Sophie legt die Rose auf das Grab.
Frieden
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