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Münsterland ist abgebrannt

Münsterland ist abgebrannt

Titel: Münsterland ist abgebrannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Kehrer
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Ohnehin schlief er die meiste Zeit. Einen oberflächlichen, von intensiven Träumen zerstückelten Schlaf. Helene kam häufig darin vor, die junge Helene, die despotische Helene, die als Fischfutter durchs Meer treibende, tote Helene. Auch Frederik trat auf, meist anklagend. Mal war er ein zehnjähriger Junge, der Vogtländer fragte, warum er sich nicht für ihn interessiere. Dann war er ein junger Mann, der Vogtländer vorwarf, ihn zu verleugnen. Die Gesichtszüge des jungen Mannes entsprangen dem Fernsehbericht, den Dr. Eriksson Vogtländer gezeigt hatte. Dem Reporter war es gelungen, Frederik zu interviewen. Vogtländer hatte sich diese Passage des Berichts mehrfach angesehen.
    Obwohl der junge Mann seine Trauer nur mühsam beherrschte und nach Worten rang, um die Abscheu über den feigen Mord an seiner Mutter auszudrücken, war nicht zu verkennen, dass Helenes Sohn ihr Selbstbewusstsein geerbt hatte. Und ein bisschen ihre Selbstverliebtheit. Beim dritten Abspielen hatte Vogtländer den Ton weggedreht und nach Ähnlichkeiten zwischen sich und Frederik geforscht. Die Nase und die Mundpartie stammten offensichtlich aus seinem Gen-Pool. Ohne Zweifel war Frederik sein Sohn.
    In dem Fernsehbericht kam Frederik noch ein zweites Mal vor. Der Reporter hatte sich Filmmaterial besorgt, das während der Kreuzfahrt vor dem Mord aufgenommen worden war. Offenbar befand sich an Bord der MS Albertina ein Videofilmer, der im Auftrag des Reiseveranstalters ständig seine Kamera laufen ließ. Vogtländer fand es unfair, dass man Frederik in inniger Umarmung mit der späteren Mörderin zeigte. Die Szenen, in denen Frederik diese Annika Busch – oder wie immer sie hieß – küsste oder mit ihr Händchen haltend an einer Bar saß, suggerierten, dass Frederik eine gewisse Mitschuld am Tod seiner Mutter trug. Dabei war er lediglich das Opfer einer professionellen Verführungskünstlerin geworden. Hatte Annika Busch nicht als Prostituierte gearbeitet? Sie hatte Frederik überrumpelt, da war sich Vogtländer sicher. Denn wie hätte der Junge ahnen können, dass ihm diese gutaussehende Frau nur etwas vorspielte?
    |||||
    Es war Nacht, als Vogtländer den Flughafen Münster-Osnabrück erreichte. Das enorme Terminal, das für den Airport einer Großstadt gebaut zu sein schien, leerte sich blitzschnell. Vogtländer schlurfte seinen Mitreisenden, die zu ihren Autos oder den Taxis eilten, hinterher. Leichte Panik befiel ihn, als er sah, wie die Taxischlange immer kürzer wurde. Nur jetzt nicht auch noch warten müssen. Nicht so kurz vor dem Ziel seiner endlosen Reise. Es kam ihm so vor, als sei er seit Tagen unterwegs, dabei hatte er erst am frühen Morgen das Krankenhaus in Tromsø verlassen. Flugzeuge und Flughäfen verschwammen in seiner Erinnerung zu einem einzigen Gefühl des Unterwegsseins. Wenn man ihn danach gefragt hätte, hätte er nicht sagen können, was den Flughafen in Oslo von dem in Berlin unterschied. Er wusste nur, dass er Frederik treffen und dann schlafen wollte. Morgen würde er sich in Münster ein Krankenhaus zum Sterben suchen.
    Er erwischte das vorletzte Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse in Lengerich. Länger als eine Viertelstunde würde die Fahrt nicht dauern. Vogtländer war zwar seit vielen Jahren nicht mehr im Münsterland gewesen, doch seit seiner Kindheit kannte er sich in der Gegend aus. Bereits nach wenigen Metern Autofahrt kam ihm die Landschaft vertraut vor. Heimat mochte er sie trotzdem nicht nennen. Heimat bedeutete Sehnsucht, und Sehnsucht verspürte er nicht nach Bäumen, Wiesen und Äckern. Die karge und abweisende Natur Spitzbergens entsprach viel mehr seinem Charakter.
    Er hatte Frederik nicht angerufen. Er hätte nicht gewusst, was er sagen sollte.
Hallo, ich bin dein Vater.
Das klang banal und dumm. Nein, er musste Frederik dabei in die Augen schauen.
    Die eigens für den Flughafen gebaute Autobahnauffahrt war neu, die kannte Vogtländer noch nicht. Der Taxifahrer beschleunigte auf der A 1 in Richtung Norden.
    Zum ersten Mal kam Vogtländer der Gedanke, dass Frederik gar nicht zu Hause sein könnte. Vielleicht war er verreist. Andererseits gab es nach dem Tod Helenes vieles zu regeln, was die Anwesenheit des Junior-Chefs erforderte. Vogtländer beruhigte sich etwas. Aber die Unsicherheit blieb. War es richtig, dass er Frederik die Wahrheit sagte? Wollte der sie überhaupt wissen? Wäre es nicht besser für Frederik, wenn er den Mann, den er Zeit seines bewussten Lebens als seinen leiblichen

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