Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
MUH!

MUH!

Titel: MUH! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
Vom Netzwerk:
blickte über sie hinweg auf das Meer. Darin schwammen knapp unter der Oberfläche Fische, die so viel größer waren als die daheim in unserem Bach. Sie wuselten in immer neuen Gruppen umher und schienen so unbeschwert, so frei von Sorgen zu sein, wie ich es gerne gewesen wäre. Warum nur war ich als Kuh auf die Welt gekommen?
    Gewiss hätte ich noch bis in die Nacht die Fisch-Herden betrachtet, wenn nicht Champion aufgestanden wäre und einen beeindruckenden Fladen produziert hätte, der sämtliche Meeresluft überlagerte. Der dicke Gesichtsbehaarte hielt sich daher im Vorbeigehen die Nase zu und erklärte: «Der Iran würde daraus eine Biowaffe machen.»
    Der Dünne meinte: «Biowaffen-Entwickler ist auch ein doofer Beruf.»
    «Total stressig, ich hätte die ganze Zeit Schiss, dass ich einen Riss im Schutzanzug bekomme.»
    Champion trat nun auf mich zu, und ich hoffte inständig, dass er mir jetzt nicht stolz erzählen würde, was für einen gigantischen Fladen er produziert hatte – Stiere lieben es ja, mit so etwas anzugeben. Sie konnten den ganzen Tag über nichts anderes reden. Und über ihre Potenz. Und darüber, wer am weitesten strullern konnte. Oder am höchsten, ohne sich dabei selbst zu treffen. Männchen besaßen nun mal die Fähigkeit, aus jeder stinknormalen Körperfunktion einen Wettbewerb zu machen. Was sie hingegen nicht besaßen, war die Fähigkeit zu begreifen, warum wir Weibchen davon nicht mal ansatzweise so beeindruckt waren wie sie.
    Champion hob an: «Es gibt doch noch etwas zu sagen …»
    «Wehe, es geht um deinen Fladen!», unterbrach ich ihn.
    «Wofür hältst du mich?», fragte er empört.
    «Die Antwort darauf willst du nicht hören.»
    «Das befürchte ich auch», seufzte er.
    Wir starrten beide in den Sonnenuntergang, der das Meer nun orangerot verfärbte. Da wurde mir klar, dass das Meer gar keine eigene Farbe besaß, sondern eine Einheit mit dem Himmel bildete. Ob Meer und Himmel am Horizont ineinander übergingen? Konnte man vom Meer, wenn man sein Ende erreicht hatte, in den Himmel steigen?
    Nach einer Weile meldete sich Champion wieder zu Wort: «Es gibt aber wirklich noch etwas zu sagen.» Dabei wirkte er so ernst, wie ich ihn selten erlebt hatte. Dies machte mich dann doch neugierig. Wollte er etwa über unser Kalb sprechen? Und falls ja, was? Er machte jedenfalls nicht den Eindruck, als ob er mich plötzlich überglücklich abschlabbern wollte, weil er Vater würde. Aber dennoch hoffte ich immer noch darauf. So fragte ich: «Also, was gibt es?»
    «Wir haben noch nicht unserer toten Herde gedacht.»
    Das überraschte. Und nicht nur mich. Die anderen reckten aufmerksam die Hälse zu uns. Meine Mägen und Pansen zogen sich zusammen: Bei all der Hektik und Panik hatten wir uns nicht richtig von den Toten verabschiedet. Jetzt hatten wir zum ersten Mal Ruhe und befanden uns nicht in Lebensgefahr, und was hatten wir getan? Gefuttert und gedöst, aber keine Sekunde an die verstorbenen Kühe gedacht. Ausgerechnet Champion war dies aufgefallen.
    «Ich möchte ein paar Worte sprechen», hob er an.
    Die anderen standen daraufhin auf, traten zu uns, und wir alle lauschten, was Champion zu verkünden hatte. Das erste Mal, dass unsere kleine Flüchtlingsherde wieder einem Stier zuhören mochte. Er räusperte sich und sprach: «Ich kann mich zwar nicht mehr an meine Herde erinnern und damit auch nicht an die, die verstorben sind. Ich mag vielleicht eine Vorstellung davon haben, was Pups-Onkel für einer war und dass es womöglich lustigere Gefährten als Tristessa, Suizida und Zugunglücka gegeben haben mochte, aber sicher weiß ich es nicht. Ich kann mich auch nicht – und das ist wirklich hart für mich – an meine Eltern erinnern, aber sie müssen wunderbar gewesen sein, wenn sie so jemanden wie mich geboren haben.»
    Normalerweise wäre dies ein Augenblick gewesen, in dem Hilde einen Spruch über seine Eitelkeit gemacht hätte, etwas in der Richtung von «Bescheidenheit ist eine Zier, nicht aber für den Stier». Aber hier ging es um die Toten, und das war viel zu ernst für eine flapsige Bemerkung.
    Mit stockender Stimme stellte Champion fest: «Jetzt werden meine Mutter und mein Vater nie ihr Enkelkalb kennenlernen.»
    Ich bekam einen Kloß im Hals, unsere Eltern waren nicht perfekt gewesen, aber es war traurig, dass sie nie ihr Enkelkind kennenlernen würden, egal, ob sie wie meine Eltern bereits früher verstorben sind oder wie die von Champion jetzt geschlachtet worden waren. Am

Weitere Kostenlose Bücher