Mundtot nodrm
»Manches Schlagersternchen wäre froh drüber«, brummte sie in sich hinein. Obwohl inzwischen die Portokosten ins Unermessliche stiegen, wurden alle Wünsche erfüllt. Bleibach hatte sich bereits 20 000 Autogrammkarten drucken lassen. Anfangs, als die Nachfrage noch nicht so groß war, hatte er jedes Mal selbst unterschrieben. Inzwischen aber war nachträglich seine Unterschrift draufgedruckt worden.
Iris Eschenbruch leitete die Mails an unterschiedliche Mitarbeiter weiter, die überall in der Republik ehrenamtlich für Bleibach tätig waren. Heute würde sie wieder erst spät nach Hause kommen, denn es mussten dringend noch einige behördliche Schreiben für die geplante Frühlingskundgebung auf dem Hohenstaufen beantwortet werden. Mittlerweile stand zumindest der Termin fest: Samstag, der 26. März. Bleibach hatte auf diesen Termin gedrängt, weil es der Tag vor der Baden-Württembergischen Landtagswahl war. Er wollte die öffentliche Aufmerksamkeit, die in dieser Zeit auf die Politik gerichtet sein würde, für sich nutzen und vielleicht mit dazu beitragen, den Menschen die Augen zu öffnen. Gerade in seinem heimischen Bundesland schienen die Bürger für die Forderung nach mehr Demokratie sehr empfänglich zu sein. Der schwelende Streit um das Stuttgarter Bahnhofsprojekt hatte dies in den vergangenen Monaten ausgelöst.
Während die Büro-Angestellte noch dabei war, E-Mails zu sortieren, und Mühe hatte, ihre abschweifenden Gedanken auf diese Arbeit zu konzentrieren, riss sie die Betreff-Zeile eines der Schreiben in die Realität zurück: ›Barbarossa‹. Sie sah auf den Absender, doch war es nur ein Alias-Name: ›saleph1109‹ stand da. Die Frau öffnete das Mail, das ohne Punkt und Komma und nur mit Kleinbuchstaben geschrieben war: ›barbarossa stirbt in fluss, anderer auf Berg nicht küffhausen. Merk das.‹
Mit einem Schlag war sie wieder voll konzentriert. Natürlich hatte sie in den letzten Monaten schon unzählige Mails mit wirrem, bisweilen völlig abstrusem Inhalt gelesen. Aber bei diesem hier war es ihr, als enthalte es eine versteckte Botschaft, die sich in einem bewussten Kauderwelsch verbarg. Saleph und diese Zahl, hämmerte es in ihrem Gehirn. Barbarossa, Fluss, Berg. Eine Anspielung auf den Hohenstaufen? Und Saleph? Aus den Tiefen ihrer schulischen Erinnerungen dämmerte es: Saleph ist jener Fluss in der Türkei, in dem Barbarossa bei seinem letzten Kreuzzug ertrunken sein soll. Sie las das Mail noch ein zweites und drittes Mal – bis sie auch Küffhausen zuordnen konnte. Gemeint war natürlich der Kyffhäuser, um den sich die Barbarossa-Sage drehte. Ihr lag bekanntermaßen eine Art Verschwörungstheorie zugrunde, wonach der Stauferkaiser, der Barbarossa genannt wurde, nicht in der Türkei gestorben sein soll, sondern sich in einen Berg zurückgezogen habe. Iris Eschenbruch entsann sich dunkel, dass dafür drei mögliche Orte infrage kamen: Der Untersberg bei Salzburg und ein Felsen bei Kaiserslautern – doch wurde in den meisten Überlieferungen davon ausgegangen, dass eher der Kyffhäuser in Thüringen gemeint war. Dort, in diesem Berg, so rief sich die Frau diese Sage in Erinnerung, sollte Barbarossa an einem Tisch sitzen. Inzwischen sei der rote Bart des Staufers durch die Tischplatte gewachsen und habe sich sogar schon zwei Mal um dieses Möbelstück gewickelt. Wenn dies das dritte Mal geschehen sei, werde er wiederkommen, um denTürken ›das gelobte Land mit dem Heiligen Grabe abzugewinnen‹. So jedenfalls hatte sie es irgendwann in der Schule gelernt, ohne sich damals große Gedanken darüber gemacht zu haben. Aber was wollte der anonyme Schreiber damit sagen? Noch einmal überflog Iris Eschenbruch die seltsame Botschaft – und blieb plötzlich wie elektrisiert an den Zahlen im Alias-Namen hängen: Saleph1109. Elfnullneun? Nine-eleven, durchzuckte es sie. 11. September. Ein Datum, das sich in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingebrannt hatte.
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So ausgelaugt wie an diesem Abend hatte sich Steffen Bleibach selten gefühlt. Seinem Gefühl nach zu urteilen, war die Kundgebung in Aalen schlecht gelaufen. Zwar hatte er ein begeistertes Publikum vor sich gehabt, doch allzu oft war ihm der Faden entglitten. Immer wieder hatte sich sein Unterbewusstsein mit der Vernehmung bei der Kriminalpolizei beschäftigt. Dass ihn daheim in Hohenstaufen Evelyn erwartete, die seit geraumer Zeit einen Schlüssel für seine Wohnung hatte, half nur wenig über das seelische Tief hinweg.
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