Mundtot nodrm
auseinanderdividieren lassen, dann wird sich etwas ändern. Und glaubt mir: Die Zeit ist reif.« Ohrenbetäubender Beifall folgte. Bleibachs »Danke« war nicht mehr zu hören. Er eilte winkend zu seinem Platz zurück, während Iris Eschenbruch in den abebbenden Beifall hinein ihre Begrüßung fortsetzte, sich bei den Gästen für die Anreise und das Engagement für die Bleibach-Bewegung bedankte und dann einige Formalitäten erledigte, die bei Tagungen immer abgehakt werden mussten. Ein Mitarbeiter aus dem Berliner Team erläuterte den Aufbau der Orts- und Kreisverbände und bezifferte unter dem tosenden Beifall der Besucher die Zahl der eingetragenen Mitglieder auf inzwischen fünf Millionen. »Und dies innerhalb eines Jahres«, fügte der ergraute Endfünfziger hinzu. »Wer jetzt noch von einem Strohfeuer spricht, das bald erlöschen wird, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Denn diese Menschen, die sich als Mitglieder eingetragen haben, sind sogar bereit, freiwillig einen jährlichen finanziellen Beitrag zu leisten, dessen Höhe, wie wir alle wissen, im Ermessen jedes Einzelnen steht. Liebe Freunde«, er ließ seinen Blick über die Menschen im Saal streichen, »wenn jemand freiwillig Geld gibt, muss er in der heutigen Zeit von einer Sache felsenfest überzeugt sein.« Wieder brandete Beifall auf. »Fünf Millionen Mitglieder«, wiederholte er, »das ist mehr als zehn Mal so viel, wie jede der angeblich großen Altparteien derzeit hat.«
Im Laufe des Vormittags kamen Vertreter der Landesverbände zu Wort. Sie berichteten über Werbeveranstaltungen und ihre Erfahrung mit dem Aufbau örtlicher Strukturen. Nicht jeder von ihnen, so stellte Bleibach insgeheim fest, hatte das Zeug zum Redner. Mit Spannung erwartete er nun den zweiten Teil der Tagung, bei dem es um Inhalte und künftige Ausrichtung der Bewegung gehen sollte. Zwar hatte Bleibach mit seinem Berliner Team, das inzwischen auf über 30 Personen angewachsen war, bereits vor Monaten eine Art Orientierungsprogramm ausgearbeitet. Doch vielfach blieb es bei eher oberflächlich gehaltenen Absichtserklärungen. Bleibach war längst klar geworden, dass es konkreter Formulierungen bedurfte, um sich auch gegen die zunehmend kritischen Kommentare der Medien behaupten zu können.
»Wir dürfen gleich gar nicht erst das Image einer Stammtischparolen-Partei aufkommen lassen«, forderte deshalb ein Redner aus Schleswig-Holstein. Und ein junger Mann aus Hessen fügte an: »Hüten wir uns aber davor, die Leute mit Versprechungen ködern zu wollen, die wir nie werden einlösen können. Ich will keinen Ton von pauschalen Steuersenkungen hören. Das wäre völlig unseriös. Außerdem würde es uns ja eh keiner mehr glauben – nach allem, was die bisherigen Parteien zu diesem Thema getönt haben.«
Bleibach machte sich Notizen. Es war dringend geboten, die Bewegung nicht durch Detaildiskussionen zu gefährden. Wie überall, das war ihm klar, gab es unterschiedliche Strömungen, bisweilen natürlich auch Profilneurotiker, die in Schach gehalten werden mussten. Während er solchen Gedanken nachhing, bemerkte er nicht, dass sich ihm ein Angestellter des Konferenzzentrums näherte. Er wurde erst auf ihn aufmerksam, als ihm dezent ein Kuvert auf den Tisch gelegt wurde. Bleibach nickte dem dunkel gekleideten Mann verwundert zu, der sich wortlos wieder entfernte. Während am Rednerpult eine junge Frau mit schriller Stimme die Forderung erhob, auch die Gleichstellung der Geschlechter in ein künftiges Parteiprogramm aufzunehmen, öffnete Bleibach das nicht zugeklebte Kuvert. Es enthielt den Ausdruck eines E-Mails, das mit der Bitte um Weiterleitung an Bleibach an das Konferenzzentrum gerichtet war. Der Absendername stach ihm sofort ins Auge: ›Anti-Bleibach‹ mit rumänischer Landeskennung. Die Botschaft bestand nur aus einer einzigen Zeile: ›1. Korinther 15.33‹. Bleibach faltete das Papier sofort wieder zusammen und steckte es in die Innentasche seines Jacketts, nachdem er bemerkt hatte, dass sein Sitznachbar auch gerne mitgelesen hätte.
Es dauerte noch eine endlose halbe Stunde, bis Iris Eschenbruch eine Kaffeepause ankündigte und Bleibach sofort den Saal in Richtung Toiletten verlassen konnte. Noch bevor dort der übliche Ansturm einsetzte, verschwand er in einer verschließbaren Kabine – dem einzigen Ort, an dem er ungestört sein konnte. Er fingerte sein iPhone aus dem Jackett und loggte sich drahtlos ins Internet ein, um bei Google ›Korinther 15‹
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