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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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Versuche doch bitte ein einziges Mal,
dein exaltiertes Gekasper auf ein Minimum zu reduzieren, ja?«
    »Fünf
Minuten!«, rief das Pummelchen, das in der Tür erschien. Alle stöhnten auf und
hasteten noch hektischer herum als vorher. Durch das Tohuwabohu der Leiber
konnte ich sehen, dass Harry immer noch geistesabwesend Bels Schulter
massierte. Bel wandte sich jetzt dem Spiegel zu, presste eine Hand auf ihr nacktes
Schlüsselbein und starrte in den Spiegel, als suche sie in seinen Tiefen etwas,
das sie verloren hatte.
    Ich eilte die
Treppe hinunter. Halle und Musikzimmer waren leer, der Garderobenraum war
abgeschlossen. Ich ging in den abgedunkelten Zuschauerraum, zog die Flügeltür
hinter mir zu und nahm meinen Platz ein.
    »Alles in
Butter, Charlie?«, sagte Frank.
    Ich war
ziemlich außer Atem. Ich hustete bloß und deutete nach vorn, wo sich der
Vorhang hob, ein einzelner Punktstrahler aufleuchtete und ein Mädchen in einem
Rollstuhl auf die Bühne rollte.
     
    In der
Garderobe hatte Bel schrecklich nervös ausgesehen, und angesichts ihrer wechselvollen
Bühnenerfahrung hätte man mit Recht das Schlimmste befürchten können. Aber in
der Eröffnungsszene machte sie ziemlich clever einen Vorteil daraus. Während
sie nörgelnd in der Küche irgendeines Vorstadthauses herumrollte, wurde aus
dem Rollstuhl eine Art Schutzpanzer, der sie von ihrer Umgebung abschottete.
Ihre Nervosität verwandelte sie in die aufsässige, aufgestaute Energie eines
Menschen, der sich vom Leben betrogen glaubte. Dann betrat Mirela die Bühne,
und wie schon im ersten Stück wirkte plötzlich alles wie aus einem Guss.
    Die drei
Maskenbildnerinnen hatten ganze Arbeit geleistet. Sie wirkte auf den ersten
Blick vollkommen ungekünstelt und nahm vollkommen für sich ein. Sie war wie ein
Magnet, sie zog den Zuschauer in sich hinein; plötzlich fiel einem gar nicht
mehr auf, dass die Dialoge abgedroschen waren, dass das Model hinkte und die
Gelähmte dauernd mit dem Fuß auf den Boden stampfte. Es hatte den Anschein, als
könnten die Scheinwerfer sich gar nicht von ihr losreißen; das Licht umschwirrte
sie wie bunte Schmetterlinge.
    Gefangen
zwischen kranker Mutter und blutsaugerischer Schwester, konnte man gar nichts
anders, als mit ihr zu fühlen. Nichts war Bel gut genug. Unablässig triezte sie
ihre Schwester, forderte pausenlos ihre Güte und Zuneigung und schien fest entschlossen,
Mirelas viel versprechende Modelkarriere aus reiner Boshaftigkeit abwürgen zu
wollen - obwohl Mirela das Geld nur wollte, damit Bel jenen Arzt aufsuchen
konnte, der wegen seiner revolutionären, wenn auch potenziell tödlichen neuen
Heilmethode in aller Munde war.
    »Ann, du
verwöhnst deine Schwester zu sehr«, sagte Mutter. Sie lag in ihrem
Krankenhausbett und streichelte Mirelas Wange. (Mutter war auch ziemlich gut -
nur ein Grobian hätte darauf hingewiesen, dass sie in ihrer Bühnenrolle
weitaus überzeugender war als jemals bei Bel und mir.) »Wir alle haben sie zu
sehr verwöhnt. Sie will mich besuchen, sagt sie. Weißt du, was das heißt?
Damit will sie dich nur noch mehr quälen, noch mehr manipulieren. Wenn sie dir
eine richtige Schwester wäre und mir eine richtige Tochter, dann wüsste sie,
dass ich sie immer lieben werde. Aber sie ist blind. Sie begreift nicht, Ann,
dass Liebe das Entscheidende ist. Sie begreift nicht, dass sie die Rampe nicht
hier auf den Stufen des Krankenhauses bauen muss, sondern in ihrem eigenen
Herzen. Sie muss eine Rampe bauen, die sie über ihre eigene Selbstsucht und
über die Bitterkeit hinwegträgt, die daher rührt, dass sie als Kind überfahren
wurde und fortan an den Rollstuhl gefesselt war.«
    »O
Mutter!«, stieß Mirela leise hervor und wandte sich schüchtern, mit andächtig
gefalteten Händen vom Bett ab. »Mary ist deine Tochter! Wir können nicht
einfach aufhören, uns um sie zu kümmern, nur weil in unserer schnelllebigen,
modernen Welt für die Unglückseligen kein Platz ist. Für mich gibt es keine
größere Freude, als für sie zu sorgen, in der Hoffnung, dass sie eines Tages
wieder gehen kann.«
    »Sie ist
so nett«, sagte Frank mit Tränen in den Augen und drückte meine Hand. »Warum
lässt Bel sie nicht ... nicht einfach in Ruhe?«
    »Ich weiß
nicht. Au, das tut weh!« Ich entwand ihm meine Hand und rieb mir die
schmerzenden Knöchel. Tatsächlich war ich geneigt, ihm zuzustimmen: Bel sollte
sie wirklich in Ruhe lassen. Als dann Harry auftrat, der Anwalt der Entrechteten,
ertappte ich mich bei dem

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