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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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Schwester hätte es genauso gemacht. Auch
wenn sie das nie zugeben würde.«
    »Wenn du
die Sache mit Harry meinst...«, sagte ich mit eisiger Stimme.
    »Kein Wort
über Harry!«, schrie sie. Ihr Kopf fuhr herum, sodass ihr die Haare ins Gesicht
flogen. Dann sagte sie mit leiser Stimme: »Ich will nicht über ihn reden. Das
verstehst du doch, oder?«
    Ich zog
mich in mein Fensterviereck zurück. Sie nahm einen hastigen Schluck und schaute
dann hinunter in ihren Schoß. »Ich will nur sagen, dass so was eben passiert,
wenn jeder Mann, der einen küsst, gleich glaubt, er hätte einen wachgeküsst.
Und jeder will, dass du eine bestimmte Rolle spielst: das tapfere kleine
Flüchtlingskind, die gehorsame Tochter, das Ausländermädchen mit den lockeren
Sitten...« Sie machte eine schnelle, mechanische Handbewegung. »Also geht man
damit um, so gut es eben geht. Man kann das Leben ja nicht einfach anhalten,
oder? Man kann sich seinen Part nicht aussuchen, man nutzt die Möglichkeiten,
die da sind, und man setzt die Mittel ein, die man hat. Und so wird aus deinem
Leben etwas, das sich immer weiter von dir selbst entfernt. Hört sich zynisch
an, ich weiß. Aber so ist es!«
    Sie stand
auf und ging zurück zu dem Berg aus Gerumpel. Mit gesenktem Kopf stand sie
davor und berührte dessen Oberfläche. Sie stand mit dem Rücken zu mir, als sie
fortfuhr. »Du darfst eins nicht vergessen.« Sie sprach jetzt leiser, und die
Worte kamen nur stockend, so als sträubte sie sich dagegen, weiterzureden. »Ich
hab das alles schon mal durchgemacht. Ich hatte schon früher ein Leben, vom dem
keiner hier was weiß. Ich hatte Freunde. Ich hatte jemanden, den ich geliebt
habe. Wieso hat mich noch nie jemand danach gefragt, Charles? Wenn alle so
besorgt um mich sind, wieso hat dann noch nie jemand danach gefragt? Ich habe
ihn geliebt, und er hat mich geliebt. Wir sind am Fluss spazieren gegangen, wir
haben uns Gänseblümchen ins Haar gesteckt, wir haben getan, was alle Verliebten
überall tun. Nur dass Krieg war, nur dass alle anderen zur gleichen Zeit versucht
haben, sich gegenseitig umzubringen wegen etwas, das passiert ist, lange bevor
irgendeiner von uns überhaupt geboren war ... Was hatte das alles mit uns zu
tun? Wir wollten niemanden umbringen. Wir haben gedacht, dass sie uns schon
irgendwann in Ruhe lassen. Wir haben gedacht, dass wir anders sind, nur weil
wir uns geliebt haben. Wir haben davon geträumt, einfach abzuhauen und woanders
wieder von vorn anzufangen.« Wieder bog sie mit der rechten Hand nacheinander
die Finger der Linken um.
    »Wie kann
ein Mensch ... wie kann der Mensch, den man liebt, einfach so verschwinden,
Charles? Wie kann ein Mensch abends aus dem Haus gehen, weil er etwas zu essen
besorgen will, und einfach so nie wieder zurückkommen? Das ist lächerlich.
Sinnlos. Aber über den Sinn von irgendwas hat schon lange keiner mehr
nachgedacht. Und dann mussten wir wieder fliehen. Und als ich zurück bin, um
ihn zu suchen, habe ich das von den Minen gehört, dass sie Minen in unserer
Straße vergraben haben, für den Fall, dass einer zurückkommt. Wo ist er jetzt?
In einem Grab irgendwo in der Krajina? Im selben Grab wie mein Vater? Keiner
weiß was. Wie ist das möglich? Ich versteh das nicht. Das ist alles, was von
unserer Liebe übrig ist, was meine Liebe für ihn tun konnte.« Ihr Kinn bebte.
Aus dem Mausoleumsdunkel in der Ecke schaute mich der Kopf des Schaukelpferds
traurig an.
    »Und so
bin ich hier gelandet, wo kein Mensch weiß oder sich drum kümmert, was da unten
vor sich geht. Die Leute wissen nicht mal, welche Sprache das ist, die ich
spreche. Und ich vergesse allmählich. Ich vergesse meinen Vater, der in unser
Dorf zurück ist, weil seine Freunde ihren Hund im Keller zurückgelassen
hatten. Ich vergesse, dass meine Mutter in Lastwagen hierher gekommen ist,
versteckt zwischen Fleisch und Computerteilen. Ich vergesse, wie meine Brüder
als kleine Kinder waren, damit mich der Anblick ihrer gelangweilten Gesichter
nicht so schmerzt. Ich tue so, als ob ich nichts wüsste von den Nachrichten im
Fernsehen, die beweisen, das sich ja doch nichts verändert. Jeder will, dass
ich vergesse, also vergesse ich. Ich zwinge mich dazu, nur an mein neues Leben
zu denken - an die Theaterstücke, die Jungen, die Möglichkeiten. Jeden Abend,
wenn mir meine Mutter eine gute Nacht wünscht, fragt sie mich, wann wir wieder
nach Hause gehen. Sie versteht nicht, dass das alles vorbei ist. Keiner der
Menschen von früher lebt

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