Murray, Paul
noch da. In unseren Häusern leben jetzt andere
Menschen, Fremde. Jeden Abend sage ich ihr das, und am nächsten Abend kommt sie
wieder in mein Zimmer, schaut in die Richtung, von der sie glaubt, dass da
Osten ist, und fragt mich wieder. Sie versteht es nicht. Aber ich verstehe es.
Und ich werde nie zurückgehen, egal, was ich dafür tun muss.«
Es folgten
lange Minuten gezwungener Stille. Ich schaute mit gerunzelter Stirn mein Glas
an, das dringend nachgefüllt werden musste. Als Mirela einen Arm um ihre Taille
schlang, bewegten sich ihre dunklen Haare sanft hin und her. »Ich erwarte
nicht, dass du mir verzeihst«, sagte sie gefasst. »Ich will nur nicht, dass du mich
für einen Dieb hältst, der in euer Haus einbricht und dir, ohne auch nur
darüber nachzudenken, dein Leben stiehlt. Ich habe nicht gewollt, dass alles so
kommt. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir Freunde geworden, du mit
deinem vermummten Gesicht und ich mit meinem Bein. Wenn man aus uns einen
Menschen machen würde, dann käme vielleicht ein ganzer Mensch dabei raus.«
Sie
lachte. Das Geräusch platzte in die bußfertige Stimmung wie ein Pistolenschuss.
Vielleicht fing ich deshalb auch an zu lachen - weil ich mich so erschrak. Die
Spannung löste sich etwas, sie drehte sich um und machte einen Schritt von der
Wand weg. Und da roch ich zum ersten Mal ihr Parfüm, was augenblicklich Bilder
und Gerüche von zu Hause in mir wachrief: von Vaters Händen, und wie sie
rochen, wenn er aus dem Labor nach Hause kam, von den Models, wenn sie, von
Duftwolken umhüllt, die Treppe hinunterhüpften. Der Duft hing noch im Haus,
wenn sie schon lange wieder weg waren, er spukte herum wie warme, süßlich
riechende Gespenster: Sie schlichen sich im Flur klammheimlich an oder
platzten mit einem Haa! aus der
Ecke eines kaum genutzten Zimmers, zwinkerten einem kurz zu und waren genauso
schnell wieder verschwunden.
»Entschuldige«,
sagte Mirela. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute Abend noch mehr große
Reden schwingen würde.«
»Ist schon
in Ordnung.«
Sie stand
jetzt wieder in der Mitte des Raumes. Mit versonnenem Lächeln griff sie nach
oben zur Laterne und klopfte mit dem Fingernagel leicht gegen das Glas. Pling. »Im
Gartenturm hatten wir auch so eine«, sagte sie.
»Ich
weiß«, sagte ich. »Die war aus unserm Haus.«
»Kommt mir
vor, als wär das schon ewig her«, sagte sie.
Das Licht der nach dem Stupser leicht schaukelnden Laterne fiel in die Mulden
ihres Schlüsselbeins und schwappte darin hin und her wie der letzte Schluck
eines opalisierenden Getränks in einem Glas. »Weißt du ... ich habe dir nie
erzählt von...«
»Ja?«
»Ach
nichts.« Sie senkte den Kopf, ging zum Tisch und setzte sich mit einem
Oberschenkel auf die Tischkante. »Von einer Dummheit, die ich ziemlich oft
gemacht habe.«
Ich ging
zum Tisch und schenkte uns beiden nach. »Los, erzähl.« Ich war froh, dass wir
uns nun auf weniger morbidem Terrain bewegten.
»Na ja ...
das war, als wir noch alle in euerm Turm waren, meine Brüder und ich. Die
beiden sind jeden Tag in die Stadt, wegen der Aufenthaltsgenehmigung. Aber ich
durfte nicht raus. Sie meinten, das war zu
gefährlich, wegen meinem Bein. Schnell bin ich damit ja wirklich nicht. Aber
egal, ich hätte mich sowieso geschämt. Am Anfang in Irland, als ich all die
Leute gesehen hab, die vor niemandem davonlaufen müssen, die ganz normal leben,
da hab ich mich geschämt. Ich kam mir so lächerlich vor. Also bin ich Tag und
Nacht da oben in meinem kleinen Zimmer geblieben. Aber dann fing ich an
durchzudrehen. Ich musste raus. Mir war egal, ob mich jemand sehen würde. Wenn
die Jungs abends eingeschlafen waren, hab ich mich nach draußen geschlichen.
Ich bin nirgendwo Bestimmtes hingegangen, nur im Garten herum, die Luft
genießen.« Abwesend zog sie die Handschuhe aus und legte sie feinsäuberlich
über die Rückenlehne des Sessels. »Einmal hab ich Licht im Salon gesehen. Ich
hab mich wahrscheinlich mehr als sonst gelangweilt oder hab mich einsamer
gefühlt als sonst, auf jeden Fall bin ich zum Fenster gegangen und hab durch
einen Spalt zwischen den Vorhängen geschaut. Und da hab ich dich gesehen.«
»Ach ja?«,
sagte ich vorsichtig. Es hatte nämlich zu meinen Gewohnheiten gehört, vor dem
Fernseher im Salon hin und wieder die hinderliche Hose abzulegen.
»Du hast
dir einen alten Film angeschaut. Das konnte ich am Licht an der Wand sehen. Das
hat mich daran erinnert, wie ich als kleines Mädchen noch
Weitere Kostenlose Bücher